Vor 24 Jahren ereignete sich in Srebrenica das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Rest Europas sah tatenlos zu. Hat die Staatengemeinschaft daraus gelernt? Von Philipp Jauernik, Vorsitzender der Paneuropajugend Österreich.
8.000. Das ist jene Zahl, die gemeinhin angegeben wird, wenn über Srebrenica gesprochen wird. Srebrenica, das ist eine Stadt in Bosnien-Herzegowina, nahe der Grenze zu Serbien. Aufgrund des Massakers, das sich hier vor 24 Jahren ereignete, steht Srebrenica oft gewissermaßen stellvertretend für all die Gräuel, die sich in den 1990ern in Südosteuropa ereigneten, während der Kriege, die das endgültige Auseinanderbrechen des sozialistischen Jugoslawiens begleiteten.
8.000. Das ist die ungefähre Zahl der Toten, die man in Srebrenica zu beklagen hatte. Es waren fast ausschließlich Männer und Buben, von jung bis alt. Allesamt Angehörige der bosniakischen Volksgruppe. Sie wurden binnen weniger Tage hingerichtet. Die Vereinten Nationen haben die Taten der Einheiten von Ratko Mladic als Genozid klassifiziert.
Srebrenica war nicht das erste Massaker während des schrecklichen europäischen Blutvergießens der 1990er Jahre. Der Reihe nach erklärten die Teilrepubliken Jugoslawiens ihre Unabhängigkeit und reformierten sich schrittweise in Richtung Demokratie. Der Widerstand aus Belgrad fiel teils sehr heftig aus – und die Zustände waren oft, gerade in Bosnien-Herzegowina sowie im Kosovo, bürgerkriegsartig. Die Frontlinien verliefen nicht nur zwischen regulären Armeen, sondern auch entlang irregulärer Verbände. Vor allem aber verliefen sie zwischen Nachbarn und zum Teil mitten durch Familien.
Anschaulich wird das etwa in den Städten Sarajevo und Mostar, die multiethnisch waren und bis heute sind. Trotz aller Bemühungen um Frieden und Versöhnung, die es damals und auch seither immer wieder gab, heilen viele Wunden nur langsam. Manche heilen nie. Väter, Mütter, Geschwister, Verwandte und Bekannte – es gibt wohl niemanden in der gesamten Region, der nicht mindestens einen Toten im engeren Umfeld zu beklagen hat.
Mit dem Kosovo-Krieg 1999 war die Phase der größten Auseinandersetzungen vorerst vorbei, mit einigen Nachwehen. Natürlich hat sich seither viel getan. Besonders positiv sind etwa die EU-Beitritte Sloweniens und Kroatiens hervorzuheben. In diesen beiden Ländern ist der Übergang geglückt. Weniger Glück haben die Bürger Bosniens und Herzegowinas, des Kosovo, Nordmazedoniens, Montenegros und Serbiens. Sie sind allesamt in einer Warteposition, was die Zukunft betrifft. Sie alle orientieren sich – teils stärker, teils weniger stark – Richtung Europäische Union. Wohin denn auch sonst, stellt sich manch einer die rhetorische Frage. Doch diese Frage greift kurz, sehr kurz. Auch wenn sie auf den ersten Blick wenig naheliegend scheinen: Die Alternativen sind vorhanden. Und sie sollten uns nicht erfreuen.
Was in Südosteuropa passiert, betrifft uns auch in Österreich
Denn letztlich ist eines klar: Südosteuropa ist nicht weit weg. Das ist vor unserer Haustür. Sarajevo ist von Wien nur knapp mehr als 600 Kilometer entfernt, nicht weiter weg als Stuttgart und nur etwas mehr als nach Bregenz oder Berlin, aber 400 Kilometer näher als Brüssel. Selbst die entfernt wirkende kosovarische Hauptstadt Pristina liegt näher an der österreichischen als die belgische.
Was in Südosteuropa passiert, betrifft uns auch in Österreich, das betrifft uns in ganz Europa. Das wissen auch andere. Waren es in der Vergangenheit vor allem Russland und die Türkei, die in der Region starke Player sein wollten, so ist es in jüngerer Vergangenheit immer stärker China. Und auch die US-Präsenz ist nach wie vor stark, oftmals stärker als jene des übrigen Europa. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Kann es wirklich das strategische Interesse der EU und ihrer Mitgliedstaaten sein, diese so nahe liegende Region dem Einfluss anderer globaler Mächte zu überlassen? Wäre es nicht wesentlich klüger, selbst der wichtigste Partner europäischer Staaten zu sein?
Österreichs Außenpolitik hat hier traditionell eine sehr weitsichtige Position eingenommen und sich als Helfer und Unterstützer der Südosteuropäer positioniert. Namen wie Alois Mock, Wolfgang Petritsch und Erhard Busek sind in Kroatien, Bosnien und Herzegowina oder im Kosovo nicht grundlos mit einem sehr guten Klang versehen. Nordmazedoniens Premier Zoran Zaev hat beim jüngsten Europaforum Wachau mit Johannes Hahn noch einen weiteren Österreicher genannt, der als EU-Kommissar einen unschätzbaren Dienst für die Region geleistet hat – nicht zuletzt mit seiner meisterhaften Vermittlung zur Beilegung des jahrzehntealten Namensstreits zwischen der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik und dem EU-Mitglied Griechenland.
Leider sind andere EU-Staaten noch nicht so weit. Während das Europäische Parlament seit Jahren immer wieder die Abschaffung der Visa für Bürger des Kosovo fordert, blockieren einige wenige Staaten die Lösung noch auf Ratsebene. Die Kosovaren sind somit die Einzigen auf dem ganzen Kontinent, die immer noch nicht frei reisen können. Die EU hat dem Kosovo einen umfangreichen Kriterienkatalog vorgelegt, um die Visafreiheit zu erlangen. Das Land hat alle Kriterien erfüllt, die EU-Kommission hat die Erfüllung der Kriterien bestätigt und auch die Sicherheitslage überprüft. Es wurde versprochen: Wenn Kosovo die Kriterien erfüllt, kommt die Visafreiheit. Gehalten wurde das Versprechen nicht. Das tut der Glaubwürdigkeit der EU-Staaten nicht gut. Nicht zu vergessen ist auch der geostrategische Aspekt: Es wäre geradezu fahrlässig, ein Vakuum zu hinterlassen, das sich andere internationale Akteure zunutze machen, deren Werte nicht mit unseren übereinstimmen.
Echtes Angebot der EU an die Staaten Südosteuropas nötig
Eines der Probleme ist derzeit, dass die Pläne des französischen Präsidenten Emanuel Macron etwa zu einem eigenen Budget für die Eurozone von einer Mehrheit der EU-Staaten abgelehnt wurden. Seine Zustimmung zu einer EU-Erweiterung hat er aber direkt mit deren Umsetzung junktimiert. Ob eine so wichtige geopolitische Entscheidung an letztlich innenpolitischen Wünschen scheitern darf, darüber möge sich jeder selbst ein Bild machen.
Versöhnung tut not und ist ein Gebot nicht nur der Stunde, sondern unserer Zeit. Es ist dringend nötig, dass die EU-Staaten gemeinsam ein echtes Angebot an die sechs Staaten Südosteuropas legen und sie viel aktiver als bisher dabei unterstützen, einander die Hände zu reichen. Europa kann sich nicht leisten, durch Blockaden die reformorientierte pro-europäische Bevölkerung am Balkan weiter zu frustrieren. Wie Kommissar Hahn es auch beim Europaforum Wachau richtig formulierte: „Die EU muss Stabilität exportieren, anstatt Instabilität zu importieren.“ Insofern ist die EU-Integration des Westbalkan eine Investition in die eigene Sicherheit und Stabilität. Europa hat das Blutvergießen der 1990er Jahre viel zu passiv mitverfolgt. Es ist eine historische Verpflichtung, heute aktiver zu sein.
Der Beitrag erschien ursprünglich als Gastkommentar in der Wiener Zeitung.