Das Paneuropäische Picknick vom 19. August 1989 war ein welthistorisches Ereignis. Seine Botschaften von damals sind heute noch genauso aktuell. Eine Bewertung von Rainhard Kloucek
„Paneuropa ist ganz Europa“. Für diese klare Aussage wurden die Vertreter der Paneuropabewegung von vielen Vertretern der Realpolitik immer wieder als Revanchisten, kalte Krieger und Ewiggestrige abgetan. Was heute fast selbstverständlich ist, dass man die Grenzen nach Ungarn, Tschechien, der Slowakei oder auch nach Slowenien fast ganz ohne Probleme und Kontrollen überschreiten kann, war vor 30 Jahren noch politischer Wunschtraum eben dieser Revanchisten. Die Nato im Westen, der Warschauer Pakt im Osten, dazwischen ein paar Neutrale, das war die aus dem Vertrag von Jalta erwachsene „Ordnung“ eines geteilten Europa. An der Berliner Mauer wurde genauso geschossen wie an den sonstigen Teilen des Eisernen Vorhanges. Trotzdem versuchten immer wieder Menschen, dem „sozialistischen Paradies“ zu entfliehen. Am 19. August 1989, beim Paneuropäischen Picknick, gelang dann die Massenflucht, der Eiserne Vorhang zerfiel, die Berliner Mauer wurde überwunden, die Statthalter des Sowjetkommunismus in Mitteleuropa wurden Großteils Geschichte.
Wegbereiter dieser Entwicklung waren wohl Polen und Ungarn. Den westlichen Regierungen – mit Ausnahme weniger Vertreter – kann man hier kaum einen Verdienst zuschreiben. Als in Polen Anfang der achtziger Jahre die Arbeiter den kommunistischen Gewerkschaften davonliefen, und die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc‘ unter Lech Walesa begann einen friedlichen Machtwechsel in Polen zu fordern, hielt der Österreichische Gewerkschaftsbund ÖGB an seinen Kontakten zur kommunistischen Staatsgewerkschaft fest, und baute auch keine Verbindungen zur Solidarnosc‘ auf. Am 4. Juni 1989 gab es in Polen bereits erste „freie“ Wahlen. Die Solidarnosc‘ eroberte dabei 99 von 100 Senatssitzen sowie alle der 160 frei zu wählenden Sitze im Sejm, dem polnischen Parlament. Die Kommunisten hatten sich in den vorangegangenen Verhandlungen 300 Sitze im Sejm reserviert. Zwei Monate später hatte das Land mit Tadeusz Mazowiecki einen nichtkommunistischen Premierminister.
In Ungarn hatte es schon Jahre zuvor einen geheimen Beschluss gegeben, neue Gesetze so zu formulieren, dass sie kompatibel zu den Bestimmungen der damaligen EG waren. 1989 begannen die Magyaren dann mit dem schrittweisen Abbau des Eisernen Vorhanges. Am 27. Juni 1989 fand der allseits bekannte Fototermin an der österreichisch-ungarischen Grenze statt, bei dem die beiden Außenminister Gyula Horn (Ungarn) und Alois Mock (Österreich) ein Stück Stacheldraht durchschnitten. Das Bild ging um die Welt. Das erste sichtbare Loch war da, und so mancher Ungarnurlauber aus einem der sozialistischen Bruderländer machte sich dieses Loch für einen Übertritt in die Freiheit zu Nutze.
Der 27. und der 28. Juni 1989
Der 27. Juni 1989 ist aber auch ein Symbol dafür, wie nahe positive und negative historische Ereignisse beieinander liegen können. Am Tag darauf, am Veitstag des Jahres 1989, hielt der serbische Tyrann Slobodan Milosevic seine berühmt gewordene Rede am Amselfeld. Sie war der Beginn eines zehn Jahre dauernden Krieges in Südosteuropa, der Tod, Genozid, Vertreibung, Vergewaltigung und Elend brachte, der aber den Freiheitswillen der Völker der Region nicht brechen konnte.
Bereits 1987, so berichtete bei einer Veranstaltung zum zehnten Jahrestag des Paneuropäischen Picknicks in Sopron der ungarische Generalmajor János Székely, habe der Grenzschutz, dessen Chef er war, eine Vorlage für die Regierung erarbeitet, die einen Abbau der elektronischen Grenzsicherung empfahl. Die Anlagen waren teilweise kaputt, reagierten auf Wind, Wetter und Vogelflug, sodass die Soldaten Alarmmeldungen – meist ohne zu kontrollieren – wieder abstellten. In Moskau war Michael Gorbatschow an der Macht. Dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklos Nemeth hatte er versprochen, die „Sünde von 1956“ nicht zu wiederholen.
Da war auf der anderen Seite ein US-Präsident Ronald Reagan, der nicht nur – unter anderem in einer brillanten Rede vor dem Brandenburger Tor bei einem Besuch in Berlin im Jahr 1987 – den Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow dazu aufrief, den Eisernen Vorhang nieder zu reißen, sondern mit seiner Rüstungspolitik die UdSSR zum wirtschaftlichen Offenbarungseid zwang. Auf gar keinen Fall vergessen sollten wir dabei den mittlerweile heilig gesprochenen damaligen Papst Johannes Paul II., der nicht nur aus einem kommunistischen Land kam, sondern wie kaum ein Papst davor sich für die Überwindung der Teilung Europas einsetzte, der mit seinem Besuch in Polen den Leuten klar sagte, dass sie keine Furcht haben sollten.
Am 19. August, am Vorabend des ungarischen Nationalfeiertages sollte an der österreichisch-ungarischen Grenze jene paneuropäische Politik, die sich mit der Teilung des Kontinentes niemals abfinden wollte, zumindest für kurze Zeit in die Tat umgesetzt werden. Bei einem Paneuropäischen Picknick an der Grenze könnten Bürger beider Länder einmal ausprobieren, wie es denn sein würde, ohne Eisernen Vorhang.
Der ungarische Staatsminister Imre Pozsgay und Otto von Habsburg, damals Präsident der Paneuropa-Union und Mitglied im Europäischen Parlament, hatten die Schirmherrschaft übernommen. Beide entschlossen sich nicht selbst an der Veranstaltung teilzunehmen. Otto von Habsburg schickte seine Tochter Walburga. Pozsgay schickte seinen Mitarbeiter Laszlo Vass. Die offizielle Begründung warum beide Schirmherren nicht zum Picknick kamen war, dass man durch die Anwesenheit der beiden doch bekannten und exponierten Persönlichkeiten die doch heikle politische Lage nicht noch irgendwie anheizen wollte, dass man Moskau nicht provozieren wollte.
Für Otto von Habsburg gab es noch ein ganz anderes Motiv nicht zu kommen. Er hatte bei seinen vorangegangenen Besuchen in Ungarn gesehen, zu welchen, teils nostalgischen, Aufläufen seine Besuche in Ungarn wurden. Da wäre er im Mittelpunkt gestanden. Das wollte er vermeiden, ihm ging es um die Botschaft dieses „Paneuropäischen Picknicks“.
Baue ab und nimm mit
„Baue ab und nimm mit!“ So stand es auf dem Flugblatt für das Picknick. „Die Teilnehmer dürfen sich selbst am Abriss des Eisernen Vorhanges beteiligen und das mit einem Zertifikat versehene Stück mitnehmen!“ Wegen des Zertifikates war wohl niemand gekommen. Es ging um die Freiheit.
Erst wurde der Stacheldraht an mehreren Stellen durchtrennt und abgerissen. Auf der Wiese des Picknick-Geländes stand ein Wachturm, den kurz vorher noch ungarische Grenzsoldaten benutzt hatten. Jetzt wehte da oben eine Paneuropa-Fahne. Ein kleines Tor an der Grenze wurde geöffnet. Doch die fünf ungarischen Grenzer, die österreichischen Besuchern ein Tagesvisum ausstellen sollen, können ihre eigentliche Arbeit nicht mehr erledigen. Hunderte Bürger der sogenannten DDR waren – angelockt durch die zu Tausenden verteilten Flugblätter – gekommen, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Manche waren zuvor schon gescheitert, bei dem Versuch in die Freiheit zu fliehen. DiesmaI sollte es 661 Menschen gelingen.
Die Flucht aus dem Arbeiter- und Bauernparadies
Mehr als die Sachen, die sie am Leib trugen, aIlenfaIls noch eine kleine Tasche, hatten sie nicht mit. Walburga Habsburg Douglas, die damals (noch als Walburga von Habsburg) ihren Vater Otto von Habsburg bei dem Picknick vertrat, wurde bei einer Veranstaltung der Burgenländischen Volkszeitung BVZ von deren Herausgeberin Gudula Walterkirchen gefragt, was für sie das Beeindruckendste an dem Tag war. Sie meinte, sie werde nie vergessen, wie sie damals Menschen gesehen hatte, die vor lauter Glück und Freude über die gelungene Flucht weinten. Normalerweise weine man aus Trauer und Schmerz, hier weinten die Menschen aus Freude und Glück. Das zweite was sie beeindruckt hat, war, dass die Flüchtlinge ihre Autos stehen ließen. Auch wenn es nur ein Trabi war, so musste man damals viele Jahre warten, bis man überhaupt zu einem Auto kam. Aber vor die Wahl gestellt zwischen Freiheit und Auto war die Entscheidung klar.
Zu den Helden des Tages gehörten neben den Organisatoren auch die ungarischen Zöllner, die in dem Chaos, das die Massenflucht brachte, Ruhe bewahrten. Walburga Habsburg Douglas erinnert sich an ein Gespräch mit einem der Zöllner: „Wir haben drei Möglichkeiten. Entweder schießen wir in die Masse der Fliehenden, aber das werden wir sicher nicht tun, denn wir wollen niemanden verletzen. Oder wir versuchen die Menschenmassen zu stoppen, aber das können wir mit unseren Kräften nicht, wir sind dafür viel zu wenige. Die dritte Möglichkeit ist die, die uns am besten und richtigsten erscheint: Wir drehen uns um und lassen alle die wollen in die Freiheit laufen.“ Danach bat er sie um ein Autogramm auf einen der rosa Visaanträge, „zur Erinnerung an einen für Europa historischen Tag“, wie er sagte.
Nach dem Picknick wurde die Grenze wieder geschlossen. Am 10. September 1989 wurde sie von ungarischer Seite allerdings geöffnet. In den Tagen zwischen Picknick und Grenzöffnung kam es noch bei einem Fluchtversuch zu einem tragischen Zwischenfall, der einem deutschen Flüchtling das Leben kostete.
Erich Honecker und Otto von Habsburg
Erich Honecker, mit den Ereignissen überhaupt nicht einverstanden, machte in einem Interview mit dem Daily Mirror – Herausgeber Robert Maxwell führte das Interview persönlich – Otto von Habsburg für die Massenflucht aus seiner DDR verantwortlich: „Habsburg verteilte Flugblätter bis weit nach Polen hinein, auf denen die Ostdeutschen Urlauber zu einem Picknick eingeladen wurden. Als sie dann zu dem Picknick kamen, gab man ihnen Geschenke, zu Essen und Deutsche Mark, dann hat man sie überredet in den Westen zu kommen.“ Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte es als einen Witz der Geschichte, dass gerade Österreich-Ungarn den Preußen in die Freiheit verhalf.
In seinem Grußwort, das von seiner Tochter Walburga vorgetragen wurde, sprach Otto von Habsburg vom „Morgenrot der Freiheit“, das an diesem Tag sichtbar wurde. „Wir müssen uns weiter dafür einsetzen, dass in Ungarn eine echte pluralistische Demokratie und bürgerliche Freiheit entsteht, und eine solche soziale Ordnung, die jedem unserer Landsleute eine menschenwürdige Existenz sichert. Auf diesem Weg haben wir bereits große, ich möchte sagen jede Hoffnung übersteigende Erfolge erzielt. Aber der Erfolg ist kein Polster, auf dem man sich ausruhen kann. Der Erfolg kann nur ein Ausgangspunkt sein. Es ist unsere Aufgabe die ungarische und die europäische Zukunft zu gestalten.“
1996 wurde in Fertörakos (Kroisbach), der Nachbarortschaft von Sopron (Ödenburg), eine dem Stacheldraht nachempfundene sieben Meter hohe Skulptur zum Gedenken an das historische Ereignis aufgestellt. Schöpferin der Skulptur war die als Künstlerin bekannte Tochter von Otto und Regina von Habsburg Gabriela von Habsburg. Eine Gedenktafel trägt die Namen der acht wichtigsten Personen für das Paneuropäische Picknick: Otto von Habsburg, der mit Imre Pozsgay die Schirmherrschaft übernommen hatte; Walburga von Habsburg und Laszlo Vass, die in Vertretung ihres Vaters bzw. des Staatsministers bei dem Picknick Reden hielten. Imre Kozma, damals Präsident des Ungarischen Malteserdienstes, der in Budapest ein Flüchtlingslager für DDR-Bürger eingerichtet hatte; Csilla Freifrau von Boeselager, die sich unermüdlich um die Flüchtlinge kümmerte; Lukacs Szabo, damals Vorsitzender des Demokratischen Forums von Debrecen und seine Assistentin Maria Fülep. Entstanden war die Idee zu dem Picknick nach einer Veranstaltung mit Otto von Habsburg an der Universität von Debrecen, im Gespräch mit ungarischen Oppositionellen.
Das entscheidende Element an dem historischen Ereignis „Paneuropäisches Picknick“, mit dem Weltgeschichte geschrieben wurde, sind aber die klaren politischen Botschaften, die damals vermittelt wurden, und die aus Paneuropa-Sicht heute nach wie vor gültig sind. „Paneuropa ist ganz Europa“ ist eines der Schlagworte der Paneuropa-Politik, die zu diesem Picknick geführt haben, und es unzertrennlich mit Paneuropa verbinden. Die Öffnung einer Perspektive für einen Beitritt zur Europäischen Union ist eine logische Folge der 1989/1990 gewonnen Freiheit. Das gilt heute insbesondere für die Länder Südosteuropas und die Ukraine. Kosovaren, Bosnier oder Ukrainer haben genauso ein Recht auf Europa wie Ungarn, Österreicher oder Polen. Vor allem darf man nicht vergessen, dass dieses Picknick an einer Grenze stattfand, die über Jahrhunderte gar keine Grenze war, weil hier Mitteleuropa war und ist, wie Karl von Habsburg in einer Presseerklärung zum 30. Jahrestag des Paneuropäischen Picknicks festhält.
Die Botschaften gelten auch heute noch
Eine weitere Botschaft dieses Paneuropäischen Picknicks war natürlich: Europa statt Nationalismus. Es ist die Botschaft eines vereinten Europa gegen ein Europa des Nationalismus, eines Europa der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit statt Totalitarismus und politischer Willkür. Freiheit ohne Verantwortung kann nicht existieren und Verantwortung kann aber auch nicht ohne Freiheit existieren. In dem Augenblick wo der Staat beginnt Dinge zu regeln, die genaugenommen in der Kompetenz des Einzelnen liegen, beschränkt er Freiheit und Verantwortung. Wenn der Einzelne seine Verantwortung nicht mehr selber wahrnimmt entschwindet auch der Begriff der Freiheit.
30 Jahre nach dem Paneuropäischen-Picknick ist es so wichtig wie damals, die inhaltliche Dimension der damaligen Ereignisse zu betonen. Das Paneuropäische Picknick war ein historisches Ereignis, seine Historisierung aber würde ihm nicht gerecht werden.
Die Paneuropabewegung Österreich bedankt sich recht herzlich bei Dr. Klara Kotai-Szarka für die historischen Aufnahmen von 1989.