Die Freiheit und der dreifache Europatag

Mancher Zeitgenosse schüttelt ob des dreifach vorhandenen Europatages den Kopf. Dabei wäre es ein exzellenter Anlass, über tiefgreifende Grundsatzfragen unserer Gesellschaft nachzudenken. Ein Kommentar von Paneuropa-Jugend Vorsitzendem Philipp Jauernik.

Er ist ein Tag, über dessen Datum bisweilen Unklarheit ausbricht: Je nachdem, wen man fragt, ist der 5., der 8. oder der 9. Mai „Europatag“. Eigentlich stimmen sie ja alle drei: Der erste als Jahrestag der Gründung des Europarats, der zweite als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, der dritte als Jahrestag der Schuman-Deklaration, die ihrerseits via Montanunion letztlich zur heutigen Europäischen Union führte.

Alle drei Tage stehen aber in einer gewissen inhaltlichen Kontinuität. Die Vergemeinschaftung der Stahlproduktion ist vor dem Hintergrund des Friedens der früheren Erzfeinde Deutschland und Frankreich zu sehen. Auch der Europarat wurde, wie auch die OECD, gegründet, weil nach dem Krieg in Westeuropa die Einsicht vorhanden war, dass Europa sich einen muss, anstatt sich weiterhin untereinander aufzureiben. Diese Einsicht und ihre Verwirklichung dürfen als Ausgangspunkt des Wiederaufbaus und der Entstehung einer weltweit einzigartigen Wohlstandsgesellschaft gesehen werden.

Es ist eine Einsicht, die heute nicht mehr so deutlich vorhanden scheint wie seinerzeit. Die unmittelbaren Eindrücke des Krieges sind verschwunden. Auch der Mauerfall ist lange her. Die liberale Demokratie stellte nicht das von Fukuyama postulierte „Ende der Geschichte“ dar. Die Wende brachte den Menschen Freiheit, aber nicht das von vielen erhoffte Paradies. Die Tristesse der Alltagspolitik holte die Menschen ein.

Als Folge sind in fast allen Teilen des Kontinents heute autoritäre Tendenzen sichtbar, auch deshalb, weil die Welt „früher“ leichter zu verstehen war. Eine breit aufgestellte Demokratie ist geistig und zeitlich fordernder als das Schwarz-Weiß in der Diktatur, die man entweder unterstützt oder ablehnt. Und in Zeiten einer Pandemie scheinen Regierungen, die schnell und ohne Widerspruch agieren können, umso attraktiver, weil durch Entscheidungsfähigkeit auch Sicherheit gegeben werden kann. Hier sehen manche autoritäre Systeme im Vorteil.

Das ist scheinbar richtig, aber eben nur scheinbar, werden hier doch zwei zentrale Punkte übersehen. Zum ersten hatten und haben fast alle Autokratien auf lange Sicht deutlich schlechtere Performances als freie, kompetitive Systeme. Das gilt für alle sozialistischen Staaten weltweit, das gilt auch für faschistische Diktaturen. Das kompetitive System der freien Marktwirtschaft und der Demokratie schafft nämlich ein Korrektiv, das es sonst nicht gibt.

Der zweite Punkt ist hingegen ein sehr grundsätzlicher. Die liberale Demokratie steht auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit, ohne die sie letztlich scheitern würde. In Europa bauen wir hier auf einer Geistestradition auf, die bis zum römischen Recht und zur attischen Demokratie zurückreicht. Das manifestiert sich in Verfassungen, in unveräußerlichen Rechten der Person, in ihrer Freiheit. Diese Freiheit muss immer und unter allen Umständen verteidigt und bewahrt werden – das sind wir jenen schuldig, die das grausame Schlachten jenes Weltkrieges nicht überlebten, nach dessen Ende das vereinigte Europa endlich entstehen durfte. Der Europatag ist der richtige Zeitpunkt, sich daran zu erinnern, und dafür sind gleich drei Europatage wahrhaft nicht zu viel.

Dier Artikel wurde ursprünglich für die Wiener Zeitung publiziert. Gedanken dazu sind in in „Paneuropa. Der Podcast“ nachzuhören.