Schengen ist nicht das Problem, es ist die Lösung

Die Migration und die Pandemie führten zu Grenzschließungen im Schengen-Raum. Mit dem Schengen Abkommen sollten die Grenzkontrollen innerhalb der EU beseitigt werden. Eine Online-Konferenz im Rahmen des Projektes CITIMIG „Citizens Looking for Multidimensional Migration Challenges”, kofinanziert durch das Programm Europa der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, diskutierte die Wechselwirkungen zwischen Migration und offenen Grenzen. Von Rainhard Kloucek

Von Anfang an war das Projekt CITIMIG durch die Corona-Pandemie betroffen. Kaum war die Eröffnungskonferenz fertig geplant, kam im Vorjahr der erste Lockdown. Die Konferenz wurde vorerst noch verschoben, in der Hoffnung, ein paar Monate später doch noch eine Eröffnungsveranstaltung mit persönlicher Anwesenheit durchführen zu können. Die Einschätzung war nicht realistisch. Letztlich wurden bisher alle projektierten Konferenzen online durchgeführt.

So auch die vorletzte Konferenz, die in Catania in Sizilien hätte abgehalten werden sollen. Corona schlug aber im konkreten Fall noch einmal zusätzlich zu, weil eine Rednerin nach der Impfung (die einen Tag vor der Konferenz erfolgte) starke Reaktionen zeigte, die eine Teilnahme unmöglich machten. Ein zweiter Redner musste ebenfalls kurzfristig absagen, sodass das Programm in letzter Minute neu organisiert bzw. gekürzt werden musste.

CITIMIG steht für „Citizens Looking for Multidimensional Migration Challenges”. Gemeinsam mit neun Partnern aus acht Ländern führt die Paneuropabewegung Österreich dieses Projekt seit dem Vorjahr durch. Das Projekt wird vom Programm Europa der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union kofinanziert. Die Konferenz betrachtet Migration ganzheitlich und beleuchtet sie in ihren unterschiedlichen Facetten, Aspekten und Dimensionen. Es geht also neben der allseits bekannten Flüchtlingskrise um Migration im umfassenden Sinne. Die Zuwanderung aus Asien und Afrika nach Europa wird genauso thematisiert wie die Wanderungen innerhalb Europas, reguläre Migration ist ebenso Thema wie irreguläre Migration über Schlepper und andere kriminelle Organisationen.

Im Rahmen der Online-Konferenz (die eigentlich in Sizilien hätte stattfinden sollen) wurden die Auswirkungen der Migrationsströme auf das Schengen-Abkommen und die Reisefreiheit in der EU besprochen.

Im Fokus stehen dabei Sicherheitsaspekte, wirtschaftliche Herausforderungen oder die politische Instrumentalisierung von Migration durch Populisten aller Schattierungen, weiters die Ursachen der Migration und ihre Folgen, wobei klar zwischen Flucht, Fluchtursachen und wirtschaftlich motivierter Migration unterschieden wird. In den einzelnen Konferenzen werden spezielle Aspekte des Themas vertieft behandelt.

die Migration und das Schengen-System

So stand die für Sizilien geplante Konferenz unter dem Titel: „EU external borders and Schengen system in the light of migration challenges.“ Es ging also in erster Linie um die Frage, welche Auswirkungen die Migration, aber auch die Pandemie, auf das Schengen-System mit seiner Reisefreiheit innerhalb der EU bzw. der Schengen-Staaten, hat. Gab es zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 noch ein Bekenntnis zu offenen Binnengrenzen, so änderte sich diese Einstellung zunehmend.

Ende der Reisefreiheit aufgrund von Corona

Nicht nur Ungarn als Staat an einer Schengen-Außengrenze setzte auf Grenzschließungen und harte Grenzkontrollen, auch Deutschland, dessen Kanzlerin mit dem Spruch „Wir schaffen das“ ursprünglich alles offen halten wollte, begann dann mit Grenzkontrollen zu Österreich. In späterer Folge gab es dann als Reaktion auf die Ausbreitung des Corona-Virus ein praktisches Ende der Reisefreiheit und strenge Grenzkontrollen in der EU.

Teilweise wurden die Grenzen komplett geschlossen und der Grenzübertritt verboten. Täglich kann man im Verkehrsfunk von Grenzwartezeiten hören, die Erinnerungen an die 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts wach werden lassen.

Ziel der Konferenz zur Zukunft Europas ist es, möglichst viele Bürger in einen Diskussionsprozess zur zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union einzubinden.

Ein zweiter Aspekt, der in der Konferenz beleuchtet wurde, war die „Konferenz zur Zukunft Europas“. Nach einem Jahr Verzögerung wurde diese Konferenz am Europatag (9. Mai) des Jahres 2021 offiziell eröffnet. In einem breiten Konsultierungsprozess sollen die Bürger der EU eingeladen werden, ihre Vorstellungen über die Zukunft der EU einzubringen. Diese Vorstellungen betreffen nicht nur die künftige demokratische Gestaltung der EU, den Klimawandel oder den sogenannten Green Deal, sondern auch die Migrationspolitik und die Einstellung der Bevölkerung dazu.

Reisefreiheit ist eine Grundfreiheit

Bereits in der Einleitung zu der Konferenz wurde deutlich, wie wichtig die Reisefreiheit, also die Wiederherstellung der offenen Binnengrenzen innerhalb der EU den Vortragenden ist. Neben der Paneuropabewegung Österreich ist der Hauptpartner in der Konferenz die Paneuropa Bewegung Slowenien. Die jeweiligen Konferenzorte (die geplanten Konferenzorte) wurden dann mit den weiteren Partnern gewählt, sodass jeweils ein dritter Partner eine Hauptverantwortung für die Programmgestaltung trug. Im konkreten Fall war das die Universität Catania in Form der Abteilung für Politik- und Sozialwissenschaften mit Professor Daniela Irrera an der Spitze.

Daniela Irrera, die in weiterer Folge der Konferenz auch an einem Panel mitdiskutierte, beschränkte sich in der Einleitung darauf, anzusprechen, dass es in der Wechselwirkung von Migration und dem Schengen-System um politische und wirtschaftliche Implikationen geht, und dabei immer die Frage gestellt werden muss, ob die jeweilige Kompetenz bei den Mitgliedsstaaten oder der EU liegt und wie hier das Zusammenspiel funktioniert.

Alles scheint gegen Schengen zu sprechen

Laris Gaiser, Präsident der Paneuropa Bewegung Slowenien, bezeichnete sich als jemand, der den Eisernen Vorhang noch erlebt hat, der dann die Vorteile sehen konnte, die der Fall dieser widernatürlichen Grenze in Mitteleuropa brachte, und der zur Generation jener gehört, die all die Vorteile der Reisefreiheit genießen konnte. Seit 2015 sieht es aber so aus, als würde alles gegen Schengen sprechen: Migration, Terrorismus, und dann auch noch die Pandemie. Seither funktioniert die Schengen-Zone nicht. Viele Politiker stellen die offenen Binnengrenzen als das große Problem hin. Dabei ist es für Gaiser genau umgekehrt: Die Reisefreiheit innerhalb der EU aufgrund des Schengen-Vertrages hat das große Potenzial Europas gezeigt. „Schengen“, so formulierte er, „ist nicht das Problem, es ist die Lösung!“

Schlagbaumzersägung im Europäischen Parlament

Dieses Schlagwort wurde in weiterer Folge auch von anderen Rednern aufgegriffen. So erinnerte sich der Präsident der Paneuropabewegung Österreich Karl von Habsburg an seine Mitarbeit in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts bei Alfons Goppel im Europäischen Parlament. Damals brachten Europaparlamentarier einen Schlagbaum mit ins Europäische Parlament, um ihn dort zu zersägen, als Symbol dafür, dass ein geeintes Europa nicht durch Schlagbäume (geschlossene
Grenzen) wieder getrennt werden dürfe. Die Unterzeichnung des Schengener Abkommens war für viele ein sehr emotionales Ereignis, das eine neue Freiheit bringen sollte.

In Anspielung an seine Zeit, als er in Salzburg lebte, aber immer wieder seine Eltern in Bayern besuchte und dabei lange Grenzwartezeiten in Kauf nehmen musste, meinte er: „Würde ich die Zeit zurückbekommen, die ich damals im Grenzverkehr gestanden bin, dann wäre ich heute deutlich jünger.“ Die Öffnung der Binnengrenzen, die Erweiterung des Schengen-Raumes, wurde dann als völlig normal, angesehen. Man hat die Reisefreiheit als eine Selbstverständlichkeit gesehen, die man kaum mehr als Freiheit wahrgenommen hat. Erst die geschlossenen Grenzen der vergangenen Jahre haben die Bedeutung dieser Freiheit wieder ins Bewusstsein gerückt.

Dabei ist das Schengen-System mit seiner Reisefreiheit einer jener Politikbereiche, die die Grundidee der europäischen Einigung widerspiegelt. „Hier geht es auch um die Frage der Sicherheit“, betonte er. Europa, die EU, ist für ihn mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Es ist auch eine Sicherheitsgemeinschaft. Ein Sicherheitssystem basiert auf einem Wertesystem, das wiederum auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und dem Willen zur Freiheit aufbaut.

Im Denkmuster des Nationalstaates

Das Subsidiaritätsprinzip spielt für ihn in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, weil es dabei um die Frage geht, wer welche Kompetenzen wahrnimmt, wo die Kompetenzen am besten zur Problemlösung angesiedelt sind. Hier beobachtet Karl von Habsburg einen Trend, der wieder zurück in den Nationalstaat geht. Politiker verfallen bei neuen Problemen in alte Denkmuster, und damit in die Denkmuster des Nationalstaates. So nach dem Motto: das hat ja früher auch funktioniert, also muss es jetzt genauso funktionieren. Aber dieses Denkmuster führe genau zu den Fehlern, die wir heute beobachten können. Die Frage der Migration und deren Regelung sieht er als gutes Beispiel dafür. Man versucht ein internationales Problem mit dem Denken des Nationalstaates zu lösen. Ein Ansatz, der nach Karl von Habsburg nicht funktionieren kann.

Deshalb muss es auch darum gehen, aufzuzeigen, wie europäische Lösungsansätze funktionieren können. Als Beispiel nannte der Präsident der Paneuropabewegung Österreich einen tatsächlich europäischen Grenzschutz. Die besondere Herausforderung für die nun laufende Konferenz zur Zukunft Europas sieht er darin, die wirklich europäischen Themen zu diskutieren. Da muss es auch um Rechtsstaatlichkeit, um die Identität Europas, die Schaffung eines Systems der Freiheit und der europäischen Souveränität, im Sinne einer echten europäischen Außenpolitik gehen.

In einem Panel, das von Elias Kindl von der Paneuropa-Jugend Österreich und Serena Timmoneri von der Universität Catania moderiert wurde, beleuchteten die Professoren Fulvio Attina und Daniela Irrera von der Universität Catania, sowie Sanja Tepavćević vom „Institute of Advanced Studies Kőszeg“ in Ungarn verschiedene Aspekte der Migration und deren Wechselwirkung auf das Schengen System.

Weltweites Problem braucht globale Lösung

Fulvio Attina betonte in seiner Präsentation, dass Migration ein weltweites Phänomen darstellt, auch wenn sich die Migrationsströme in verschiedenen Erdteilen unterschiedlich darstellen. So kommt die Migration in die USA vor allem aus Lateinamerika, Australien kennt Wanderungsbewegungen in erster Linie aus Asien, und in Europa kommt die Zuwanderung aus Asien und aus Afrika. Dabei reagieren alle großen Einwanderungsgebiete nur auf ihre speziellen Migrationsherausforderungen.

Die größte Gefahr für die europäische Einigung, den europäischen Integrationsprozess, geht für die Konferenzteilnehmer von einem neuen Nationalismus und vom Populismus aus. Die Sicherung der Freiheit sehen die Teilnehmer als wichtigste Errungenschaft der europäischen Einigung.

Notwendig ist für Attina aber eine Politik, die auf Migrationsursachen Bezug nimmt. Da die Herausforderung Migration weltweit ist, sollte es im Interesse der EU sein, eine weltweit gültige Migrationspolitik zu schaffen. Und weil es sich bei der Migration um eine weltweite Herausforderung handelt, vergleicht Attina dieses Phänomen mit anderen weltweiten Herausforderungen wie den Klimawandel.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man auf die neuen Herausforderungen mit der Schaffung von neuen internationalen Organisationen reagiert. Fulvio Attina nannte das Handelsabkommen GATT, den Internationalen Währungsfonds oder die Welthandelsorganisation WTO, über die auch international gültige Regeln gesetzt wurden, als Beispiele. Bei der Klimapolitik versuche man es mit Abkommen wie dem Pariser Klimaabkommen. Im Bereich der Migrationspolitik gibt es 24 Organisationen, die auf Ebene der UNO angesiedelt sind. Es fehlen aber die Synergien. Innerhalb der Migrationspolitik gibt es den großen Konflikt zwischen: Migration als Bedrohung oder Migration und Mobilität als Chance. Dieser Konflikt zieht sich durch die Länder der EU. Dementsprechend schwer ist es, haltbare Lösungsansätze zu finden.

Gastarbeiter und Kriegsflüchtlinge

Mit einem Focus auf die Wanderungsbewegungen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion nach Ungarn und Österreich im Laufe der Zeit beschäftigte sich Sanja Tepavćević. Österreich hatte als neutrales Land einen anderen Zugang zur Migration als Ungarn, das Teil des Ostblocks war, und wo es ein sehr striktes Migrationsregime gab. Österreich (und Länder wie Deutschland und die Schweiz) setzten mit dem Projekt Gastarbeiter auf Arbeitskräfte aus dem ehemaligen Jugoslawien (und auch der Türkei). Allerdings sollten diese Gastarbeiter nach Ende ihrer Arbeitsaufenthalte wieder zurück in ihre alte Heimat kehren. Umgesetzt wurde dieser zweite Teil aber nicht, später kam es dann zur Familienzusammenführung.

Mit dem Ende des Ostblocks 1989/1990 und den Milosevic-Kriegen im Zuge der Auflösung Jugoslawiens änderte sich die Migrationspolitik. Ethnische Ungarn aus Jugoslawien aber auch anderen Teilen des Ostblocks kamen nach Ungarn. Die Balkankriege führten zu Flüchtlingsbewegungen sowohl nach Ungarn als auch sehr stark nach Österreich.

Pandemie brachte zum Teil eine Rückwanderung

Die Einführung des Schengen Systems brachte laut Sanja Tepavćević einen zusätzlichen Filter in der Zuwanderung. So kam es zur Unterscheidung zwischen der ungewollten Zuwanderung von meist schlecht ausgebildeten „Flüchtlingen“ auf der einen, und dem gewollten Zuzug von Fachkräften auf der anderen Seite. Durch die Pandemie hat sich vieles verändert. So sind beispielsweise zirka 1,3 Millionen Rumänen zurück nach Rumänien gegangen.

Die entscheidende Frage für Sanja Tepavćević ist aber, welche Lehren bzw. Konsequenzen die Politik nun aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre zieht. Wird das nach wie vor gültige Regime der offenen Binnengrenzen wiederhergestellt, oder kommt es zu einem neuen Grenzregime innerhalb der EU?

Der neue Pakt für Migration und Asyl

Auch Daniela Irrera wies darauf hin, dass Schengen, speziell unter dem Gesichtspunkt der Migration, ein sehr kontroversielles Thema ist. Durch den neuen Pakt für Migration und Asyl, den die EU-Kommission vorgestellt hat (und der auch Thema der Konferenz sein hätte sollen, wo aber die Rednerin aufgrund der Covid-Impfung dann nicht teilnehmen konnte) soll es zu einem neuen Monitoring-System kommen. Dieses Monitoring-System, so Irrera, muss auf alle Bereiche der Grenzen ausgedehnt werden. Und die Professorin aus Catania fordert eine Einbeziehung von NGOs in dieses System. Mit Sorge beobachtet sie einen neuen Nationalismus, der mit einem hegemonialen Verhalten und alten Mustern der Machtpolitik einhergeht.

Leichterer Zugang zum Arbeitsmarkt ist positiv

In der Diskussion mit den Konferenzteilnehmern wurde dann die Frage der Integration über den Arbeitsmarkt aufgegriffen. Als Beispiel diente der Vergleich zwischen den Gastarbeitern, die speziell für den Arbeitsmarkt ins Land geholt wurden, und heutigen Migranten, die teilweise gar nicht arbeiten dürften. Allerdings, so meinte Sanja Tepavćević, funktioniere die Integration über den Arbeitsmarkt auch nicht immer. Die Hürden dafür sind in der EU auch unterschiedlich. Vielfach geht die Integration über die eigene Gemeinschaft von Zuwanderern, die schon früher ins Land kamen, oder über die internationalen Gemeinschaften. Einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt würde aber auch die Wissenschaftlerin begrüßen. So hätte das für das Empfängerland den positiven Effekt, dass es neue Steuerzahler bekommt.

Der Europatag und die Zukunft Europas

Am zweiten Konferenztag wurden dann die Themen „Konferenz zur Zukunft Europas“ und Migration behandelt. Bent Norby Bonde vom „Europe’s People Forum“ in Dänemark gab einen Überblick über diese Konferenz, die am 9. Mai tatsächlich offiziell eröffnet wurde, obwohl noch zwei Tage davor aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Institutionen nicht klar war, ob der Termin halten würde. Der entscheidende Punkt für Bent Norby Bonde ist, dass in dieser Konferenz die Bürger über verschiedene Plattformen in den Diskussionsprozess einbezogen werden sollen. Damit soll auch ein mögliches demokratisches Defizit abgebaut werden. Untersuchungen zeigen, dass in den Ländern, in denen das Vertrauen in die EU-Demokratie Mängel aufweist, die Bürger auch Mängel in der Demokratie des Heimatlandes sehen.

Daten aus den Bürgerkonsultationen

Bürgerkonsultationen gab es schon in Frankreich als Folge der Gelbwestenproteste. Danach kam es zu Konsultationen auch in anderen Ländern. Aber diese Konsultationen wurden jeweils auf den eigenen Nationalstaat zugeschnitten, sodass es keine vergleichbaren Ergebnisse gab. Nun soll es im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas eine solche Konsultation auf EU-Ebene geben. Jeder Bürger, jede Bürgerin, soll auf einer multilingualen Plattform die Möglichkeit haben, Prioritäten für die EU-Politik bekannt zu geben. Dafür hat man 1.600 Zeichen für einen Text. Letztlich sollen die Vorschläge in einem Plenum aus den drei Institutionen und anderen Einheiten diskutiert werden.

Mehr Zusammenarbeit ohne neuen Vertrag

Die Gefahr besteht für Bent Norby Bonde darin, dass der Streit zwischen den Institutionen weiter geht, und somit die Einstellung der Bürger zur EU negativ beeinflusst. In der Vorbereitung der Konferenz war einer der wichtigsten Streitpunkte der, ob es einen neuen Vertrag geben soll. Es ist für Bent Norby Bonde unwahrscheinlich, dass aus der Konferenz eine Vertragsänderung entstehen wird. Es wird aber in einigen Bereichen – so seine Prognose – nach der Konferenz eine engere Zusammenarbeit geben: in der Gesundheitspolitik, im sozialen Sektor, bei der Immigrationspolitik, in der Außenpolitik und wahrscheinlich auch in anderen Gebieten. Dazu braucht es keine Vertragsänderung.

Wie sieht Europa in der Zukunft aus?

Iole Fontana, ebenfalls von der Universität Catania, stellte dann in der von Dejan Hribar, Generalsekretär der Paneuropa Bewegung Slowenien, moderierten Diskussion den Zusammenhang zwischen der Konferenz zur Zukunft Europas und den Herausforderungen in der Migrationspolitik her. Die Konferenz stellt die wichtigen Fragen, was für eine Zukunft wir für Europa wollen, was wir von Europa erwarten, und in welchem Europa wir leben wollen? Diese Fragen sind für Fontana auch entscheidend, wenn es um die Frage von Migration und Asyl geht. Ganz sicher werden, ihrer Meinung nach, diese Fragen die Zukunft von Europa beeinflussen.

43 Prozent sind für geschlossene Grenzen

Über die digitale Plattform zur Konferenz haben bisher 43 Prozent der Teilnehmer für geschlossene Grenzen, den Schutz der nationalen Souveränität und einem Stopp der Migration plädiert. 26 Prozent haben sich für Menschenrechte und eine EU-Kompetenz in der Migrationsfrage ausgesprochen. Für Iole Fontana ist das eine Polarisierung der Bevölkerung. Migration bleibt jedenfalls ein Thema für die Politik auf nationaler Ebene und auf EU-Ebene.

Zahl der Migranten ging nicht zurück

In den Jahren 2010 bis 2019 haben 2,3 Millionen Menschen versucht über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. 2,5 Millionen Asylansuchen gab es in den Jahren 2015 bis 2016. Covid hat laut Fontana keinen Rückgang bei der Migration gebracht. Sowohl in Spanien als auch in Italien kamen 2020 mehr Leute über das Mittelmeer als 2019. In die EU kamen über das Mittelmeer von Jänner bis April 2021 18.180 Menschen, im gleichen Zeitraum des Jahres 2020 waren es 17.751 Personen. Auch die Zahl der Toten oder Vermissten ist gestiegen. Von 2014 bis 2020 sind 617 Menschen gestorben, als sie Grenzen innerhalb der EU überwinden wollten, beispielsweise bei der Querung eines Flusses ertrunken. Von 2014 bis 2019 wurden 77 Mal Grenzkontrollen eingeführt, 53 davon wurden mit der Kontrolle der Flüchtlingsströme gerechtfertigt.

Krisenmanagement oder Management in der Krise

Für Iole Fontana haben es die Mitgliedsstaaten bisher nicht geschafft, mit dem Phänomen der Zuwanderung zurecht zu kommen. Sie konstatiert eine politische Krise, in der es vom Krisenmanagement zu einem Management in der Krise gekommen ist. Migrationspolitik muss ihrer Meinung nach vorhersehbar, ausgeglichen und verlässlich werden. Migration ist nicht eine Welle, sondern eine Flut. Sie ist permanent, auch wenn es ein Auf und Ab gibt. Es müsse zu einer klaren Kompetenzzuweisung auf eine Ebene in der Migrationspolitik kommen. Derzeit gibt es unterschiedliche Kompetenzen auf Ebene der Mitgliedsländer und auf Ebene der EU, was Lösungen behindert.

Das Projekt CITIMIG – „Citizens Looking for Multidimensional Migration Challenges” – wird vom Programm Europa der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union kofinanziert. Die Paneuropabewegung Österreich führt das Projekt mit neun Partnerorganisationen durch.

In den zweiten Konferenzteil wurden über verschiedene technische Möglichkeiten Umfragen eingebaut. So kristallisierte sich bei der Frage, wofür die Europäische Union notwendig sei, die Sicherung der Freiheit als wichtigste Grundlage heraus. Die größte Gefahr bzw. Herausforderung für die europäische Einigung sahen die Teilnehmer in Nationalismus und Populismus. Eine weitere Integration war für die Teilnehmer wünschenswert. Und auf die Frage, ob die Flüchtlingskrise oder die Covid-Pandemie die Schengenfreiheit unterminiert haben, entschied sich jeweils eine Hälfte für eine der beiden Antworten, also Gleichstand. Die Ergebnisse einer weiteren Umfrage werden in einem eigenen Infokasten auf Seite 18 dargestellt.

Abschluss des Projektes im September in Wien

Abgeschlossen wird das Projekt CITIMIG mit einer letzten Konferenz am 17. und 18. September 2021 in Wien. Derzeit deuten alle Anzeichen darauf hin, dass die Konferenz mit persönlicher Anwesenheit stattfinden kann. Das Projektteam arbeitet auch daran, dass es wieder zu einem persönlichen Zusammentreffen im Rahmen der Konferenz kommen kann. Weitere Informationen, Programm und Details folgen in gesonderten Aussendungen.

Umfrage unter den Konferenzteilnehmern

Sollte die Europäische Union eine Kompetenz für eine europäische Außenpolitik bekommen?

Ja                                                                    100 %

Nein                                                                 0 %

Glauben Sie, die Europäische Union hat ein demokratisches Defizit?

Ja                                                                    60 %

Nein                                                                 40 %

Würden Sie eine EU-Staatsbürgerschaft der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes vorziehen?

Ja                                                                    80 %

Nein                                                                 0 %

Weiß nicht                                                         20 %

Sollte die Zuständigkeit für die Grenzkontrolle auf EU-Ebene gehoben werden?

Ja                                                                    100 %

Nein                                                                 0 %

Weiß nicht                                                         0 %

Welche Politikbereiche sollten auf EU-Ebene Priorität genießen (wählen Sie drei Bereiche aus)

Europäische Außenpolitik                                     100 %

EU-Erweiterung                                                  80 %

Freie Marktwirtschaft                                          60 %

Binnenmarkt                                                      40 %

Die immer engere Union                                      20 %

Green Deal                                                        20 %

Klimawandel                                                      20 %

Mindestlöhne                                                              0 %

Steuerharmonisierung                                          0 %

Eine offizielle EU-Sprache                                    0 %