Der Kreml führt in der Ukraine einen barbarischen Krieg, dessen Implikationen und Konsequenzen weit über die bilaterale Ebene hinausgehen. Egal wie der Krieg ausgeht: Europa hat sich völlig verändert. Von Alfred Praus.
Die bilaterale Perspektive
Ungeachtet des Budapester Memorandums aus 1994, in dem auch Russland die Souveränität der Ukraine garantiert hatte und aufgrund dessen die Ukraine im Gegenzug ihre Nuklearwaffen abgab, betrachtete Putin die Ukraine in Wirklichkeit nie als eigenständige Nation. So bezeichnete er in Verfälschung der Geschichte die Ukraine stets als Teil Russlands. Folglich war schon 2014 die „Heimholung“ des Donbass und der Krim keine wirkliche Überraschung. Hier unterlag Putin jedoch einem schweren Irrtum, als er die Verwendung der russischen Sprache mit pro-russischer Gesinnung gleichsetzte. Infolgedessen verfestigte sich der Patriotismus und Nationalismus der Ukraine, verbunden mit verstärkter Zuwendung zur EU.
Dies wollte Putin nicht hinnehmen und griff im Februar die Ukraine brutal an. Im Lichte des unerwarteten, mutigen und erfolgreichen Widerstands der Ukrainer mutierte die Besetzungsabsicht zum Vernichtungskrieg mit dem Ziel der Auslöschung der Ukraine als Nation, sowohl wirtschaftlich, sozial als auch kulturell. So erklären sich auch die gezielte Zerschlagung der Infrastruktur, die Vernichtung ganzer Regionen und Städte, die massenhafte Ermordung von Zivilisten, die Verschleppung von zwischenzeitlich mehr als einer Million Ukrainer einschließlich zigtausender Kinder und die systematische Zerstörung von Schulen, Krankenhäusern, Kirchen, Theatern und Museen sowie der Raub ukrainischer Kulturgüter.
Die Ukrainer kämpfen für ihr Heimatland, für Freiheit, Selbstbestimmung, Souveränität und Demokratie.
Die geopolitische Perspektive
Die Ukrainer verteidigen jedoch auch Europa: Putin, Medwedew und andere hochrangige Politiker beklagen den Zerfall der Sowjetunion als geopolitische Jahrhundert-Katastrophe und fordern deren Wiederherstellung bzw. sogar „ein Reich von Lissabon bis Wladiwostok“. Viele anerkannte Experten meinen, dass Putin – sollte er in der Ukraine militärisch nicht gestoppt werden können – seine imperialistischen Ambitionen ausweiten wird.
All dies hat Putin gut vorbereitet: mit billigem Gas und Öl lullte er EU-Staaten über viele Jahre ein. Entgegen den Grundprinzipen wirtschaftlichen Handelns, zum Beispiel multiple sourcings und Risikostreuung, und ungeachtet expliziter Warnungen vor Putin – so beispielsweise Otto Habsburg schon Anfang der 2000er Jahre – vertrauten viele politischen Entscheidungsträger in Europa Putin und begaben sich in eine teils extreme Abhängigkeit. Das ermöglicht Putin nun die explizite Benützung der russischen Energielieferungen als Waffe, garniert mit nuklearen Drohungen.
Es geht bei diesem Krieg um Frage der Hegemonie einer Diktatur über Europa und um einen Kulturkampf der politischen Systeme. Wir alle sind da wohl angehalten, die Ukraine in ihrem auch für uns geführten Kampf zu unterstützen.
Alfred Praus ist Präsident der Ukrainian-Austrian Association und Mitglied des Kuratoriums der Paneuropabewegung Österreich. Er ist seit vielen Jahren in der Ukraine wohnhaft und tätig. Zu Beginn des Krieges hat er mit seiner Familie Kyiv verlassen.