Wenn ein europäisches Land wissen sollte, wohin Ultranationalismus führt, dann Serbien.
Ein Kommentar von Charles Joseph Steiner
Aus der jüngeren Geschichte könnte man lernen. Das gilt besonders für den EU-Kandidaten Serbien mit seiner wunderbaren Kultur und Kulinarik, eingebettet in einem reichhaltigen Fundus von abendländischem Selbstverständnis mit Einsprengseln aus dem Okzident. Hört man serbische Musik, so schwingt auch eine gewisse orientalische Wehmut mit. Serbien hat in der Vergangenheit viel verloren – und das war nicht zuletzt aufgrund des aufkeimenden Nationalismus nach Titos Tod geschuldet. Ende der 1980er Jahre träumte Slobodan Miloševič von einem Erstarken Serbiens. Ausgangspunkt eines Flächenbrands, der nur wenige Jahre später zu einem Krieg geführt hat, war der Kosovo. Am 600. Jahrestag zur Schlacht am Amselfeld, auf Serbisch Kosovo Polje bzw. Fushe Kosova auf Albanisch, auf dem 1389 serbisch/bosnische/albanische Truppen dem osmanischen Reich gegenüberstanden, machte Miloševič keinen Hehl aus seiner Gesinnung. Mit fatalen Folgen. Jugoslawien brach auseinander, ein blutiger Krieg forderte zehntausende Todesopfer. Und Srebrenica brennt sich heute noch ins kollektive Gedächtnis ein. Was hat diese Gesinnung diesem Land gebracht? Jugoslawien ist zusammengebrochen und das serbische Territorium gleichfalls. Montenegro und der Kosovo sind unabhängig, Serbien vom Meer abgeschnitten.
Ein Lehrstück, welche massiven Folgen ein exkludierender Nationalstolz haben kann. Der eben zum Präsidenten gewählte Aleksandr Vucic – er war unter Miloševič Informationsminister – sollte das wissen. Zwar gibt er sich betont proeuropäisch, Zweifel tauchen dann aber auf, wenn Züge mit der Aufschrift Kosovo je Srbja in Richtung des Kosovo geschickt werden und er mit dem Gedanken liebäugelt, eine Präsidialdemokratie aufzubauen. Eine solche konfrontative Haltung kann schnell wieder in einen Flächenbrand ausarten, besonders dann, wenn die Wunden des Jugoslawienkriegs – und die sind etwa nach dem Bosnienkrieg immer noch frisch – nicht verheilt sind. Eine innenpolitische Zwickmühle. Man will sich nach Europa orientieren, gleichzeitig der serbischen Nation zu alter Stärke verhelfen – und im Osten wartet Russland mit offenen Armen, mit dem Serbien zu Recht eine traditionelle kulturelle Verbundenheit aufweist. Das macht die Lage noch komplizierter, weil innenpolitisch zwiespältig.
Wirtschaftlich hat sich Serbien gut an europäische Standards angepasst. Nach dem Kosovo-Krieg und den dadurch einhergehenden Regimewechsel begann man damit, staatliche Betriebe zu privatisieren, Banken wurden in die Insolvenz geschickt und der Finanzmarkt dadurch für ausländische Investoren geöffnet. Mit Erfolg. Heute ist Serbien eine liberale Marktwirtschaft mit großteils westlichen Standards und hat nach dem Embargo in den Kriegsjahren Mitgliedschaften im IWF und der WTO entweder begonnen oder erneuert. Besonders österreichische Unternehmen gelten als stärkste Investorengruppe. Nicht zuletzt durch die Orientierung in Richtung Europa konnten zahlreiche ausländische Konzerne angelockt werden. Und die Prognosen stehen gut. Die Wirtschaft, so schätzen Analysten, nehmen weiterhin an Fahrt auf. Der Markt wird nicht mehr als volatil, sondern als sehr stabil betrachtet.
Allerdings ist das politische System nach wie vor zerrissen zwischen dem nationalen Erbe aus den 1990er Jahren und der Westorientierung nach 2000 – und natürlich zur traditionellen Freundschaft zu Russland, was das innenpolitische Spannungsverhältnis zusätzlich begünstigt. Nach der Anerkennung des Kosovo durch den Westen spaltete sich etwa eine Gruppe von Tomislav Nikolic von der radikalen SRS ab und gründete die SNS, die Fortschrittspartei. Aus diesen Reihen wurde Aleksandr Vucic 2012 zum Vorsitzenden gewählt.
Die SRS als ultranationale Partei unter der Führung von Voijslav Šešelj ist nach wie vor ein dominanter Faktor in Serbien – mit zahlreichen Altlasten vom Krieg, als paramilitärische Truppen aus deren Dunstkreis an ethnischen Säuberungen und Kriegsverbrechen teilgenommen hatten. Das brachte Šešelj vor das Haager Gericht und lange in Untersuchungshaft. Die Partei driftete in die Bedeutungslosigkeit ab und flog 2014 aus dem Parlament. Nach Šešeljs überraschendem Freispruch führte er die SRS wieder ins Parlament zurück.
Dann gibt es noch die Sozialistische Partei (SPS), eine Nachfolgepartei jener von Miloševič, die nach dem Regimewechsel zwar zu einer marginalen Kraft wurde, aber durch eine Erneuerung hin zu einem sozialdemokratischen Programm 2008 wieder aufholen konnte. Mittlerweile ist sie die zweitstärkste Kraft in Serbien. Dann gibt es noch die Demokratische Partei (DS), die seinerzeit als Opposition mit einem Bündnis Miloševič aus dem Amt fegte. Maßgeblichen Anteil daran hatte Zoran Dindič, der später ermordet wurde. Danach übernahm Boris Tadić die Führung der Partei und konnte 2008 sowohl eine Regierungsmehrheit als auch das Präsidentenamt gewinnen. Das währte nur kurz: vier Jahre später gingen beide Ämter wieder verloren. Abgespaltet von der DS entstand die sozialdemokratische Partei SDS, die vom ehemaligen Präsidenten Boris Tadic angeführt wird – und 2016 nur knapp ins Parlament einziehen konnte. Vor drei Jahren gründete der ehemalige Wirtschaftsminister Saša Radulović die wirtschaftsliberale Bewegung „Es ist Genug“ (Dosta je bilo), die am Anfang kaum Erfolge vorzuweisen hatte, allerdings im Vorjahr als stärkste Oppositionskraft ins Parlament einzog.
Die innenpolitischen wie außerpolitischen Spannungsverhältnisse aufzulösen ist eine Kraftanstrengung. Es ist aber möglich, und zwar auf diplomatischer Ebene. Man könnte Serbien etwa aufgrund seiner Verbundenheit zu Europa und Russland eine Vermittlerrolle zuerkennen und dem Land gleichzeitig die innere Zerrissenheit zwischen Europa und Russland nehmen, indem man es aktiv einbindet. Zuvor müssen aber auch so manche geistigen Grenzen gesprengt werden – zwischen Serbien, dem Kosovo, Bosnien und Kroatien. Da könnte man argumentieren, dass nur in einem gemeinsamen Europa ohne Grenzen jedes einzelne Land eine Chance auf Zukunft hat und es sich daher lohnt, in gute Beziehungen zu den Nachbarn zu investieren.