Das Paneuropäische Picknick ist ein historisches Ereignis im doppelten Sinne. Es ist einerseits lange her, hat aber andererseits den Verlauf der europäischen Geschichte verändert. Es hat den Totalitarismus in Mitteleuropa überwunden und eine klare Botschaft der Freiheit ausgesendet. Diese Botschaft gilt auch heute noch und ist durch den russischen Angriff auf die Ukraine wieder hochaktuell. Vortrag von Rainhard Kloucek, Präsident der Paneuropabewegung Österreich, im Rahmen des Paneuropa Symposiums zum 35. Jahrestag des Paneuropäischen Picknick am 18. August 2024 im Cafe Central in Eisenstadt.
Fünfunddreißig Jahre sind eine Zeit, in der ein Ereignis tatsächlich historisch wird. Historisch, in dem Sinne, dass es so lange zurück liegt, dass sich nur mehr die ältere Generation daran erinnern kann, und in der Zwischenzeit bereits eine neue Generation erwachsen geworden ist, die keine lebendige Erinnerung an das Ereignis und die Zeit direkt davor hat.
Es soll in diesem Beitrag aber nicht um dieses Verständnis des Historischen gehen, sondern um ein Ereignis, das deshalb als historisch zu bezeichnen ist, weil es den Lauf der Geschichte verändert hat, weil es eine Bedeutung für den weiteren Verlauf der europäischen Einigung hatte, und weil es im konkreten Fall auch Einfluss auf die Weltgeschichte hatte. Und, weil mit diesem Picknick auch ganz klare Botschaften verbunden waren.
Aber, weil das Picknick historisch im Sinne des „es ist lange her“ ist, sind viele Umstände, die dazu geführt haben bzw. so manche Kenntnisse über die weltpolitische Lage vergessen oder verdrängt worden. Deshalb ist es wichtig, auch diese Zusammenhänge in einer Betrachtung der Ereignisse von 1989 darzustellen.
Es war natürlich eine Übertreibung, wenn einer der Redner beim Picknick, nämlich der damalige Landesobmann der Paneuropabewegung Niederösterreich Klaus Lange, dieses kleine Fest an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn, zwischen St. Margarethen und Sopron, an der alten Preßburger Straße, mit der Entdeckung Amerikas verglich. Aber wenn wir das Ereignis von damals betrachten, und auch die Intentionen der Akteure, die zu diesem Picknick geführt haben, in die Betrachtung miteinbeziehen, dann war es auf jeden Fall eine Zeitenwende.
Diesen Begriff hat der aktuelle deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Frühjahr 2022 verwendet, um die Vernichtungsinvasion der Russischen Föderation gegen die Ukraine und die damit verbundenen Folgen für den künftigen Verlauf der Geschichte anzudeuten. Die Zeitenwende von 1989 war eine gute für die weitere Entwicklung Europas. Die Zeitenwende von 2022 war eine negative für die weitere Entwicklung Europas und der Welt.
Eine Zeitenwende des Friedens und der Freiheit
Der Unterschied lässt sich auch anders formulieren: die Zeitenwende von 1989 war eine des Friedens und der Freiheit, die Zeitenwende von 2022 ist eine des Krieges und der Despotie.
Auch wenn nun die meisten Beobachter die beiden Ereignisse nicht in einem direkten Zusammenhang sehen, so besteht er doch. Es geht nämlich um die Frage, was ist damals passiert, und wer hat das Ereignis wie interpretiert.
In nüchternen Daten betrachtet war das Paneuropäische Picknick ein Open-Air-Fest mit Bier und Speck in der Wildnis am Eisernen Vorhang, der damals durch die Mitte Europas verlief. Das Grenztor sollte kurze Zeit geöffnet werden, um Gäste von der österreichischen Seite auf die ungarische Seite zu lassen, damit sie dort ein Würstel essen, und einen G´spritzten oder was auch immer trinken könnten. Das allein macht noch keine Nachricht.
Die Nachricht, und das was dieses Picknick zu einem historischen Ereignis machte, waren die 661 Bürger der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik, die das Picknick nutzten, um aus ihrem Sommerurlaub in Ungarn (das damals ganz eindeutig zum sogenannten Ostblock gehörte) dem real existierenden Sozialismus, der damals halb Europa – von Moskau kontrolliert – beherrschte, zu entfliehen. Dies um den Preis, alles zurückzulassen, was sie besaßen. Sie konnten nur mitnehmen, was sie am Leibe und in den Händen trugen. Das war bereits eine Nachricht, die um die Welt ging.
Die weiteren Folgen sind bekannt. Zwar wurde die Grenze zwischen Österreich und Ungarn noch einmal geschlossen. Es kam sogar noch zu einem tragischen Zwischenfall, bei dem ein Deutscher, der in der Nacht die Grenze überqueren wollte, im Handgemenge mit einem ungarischen Grenzsoldaten, im Verlaufe dessen sich ein Schuss aus dem Gewehr des Soldaten löste, ums Leben kam, aber am 10. September 1989 öffnete Ungarn endgültig die Grenzen. Am 9. November des gleichen Jahres fiel die Berliner Mauer. Es kam zur deutschen Wiedervereinigung. 1991 wurden schließlich auch die Sowjetunion und der Warschauer Pakt aufgelöst.
Die Illusion vom „Ende der Geschichte“
Mit diesem Ergebnis wurde im Westen das Ende der Geschichte, wie es Francis Fukuyama nannte, gefeiert, also der endgültige Sieg von Demokratie und liberalem Rechtsstaat über den Totalitarismus. Der Kalte Krieg, der ein halbes Jahrhundert die Weltpolitik dominiert hatte, war für den Westen beendet.
Doch, und das müssen wir anhand der aktuellen Ereignisse so zur Kenntnis nehmen, diese Interpretation dessen, was dem Paneuropäischen Picknick folgte, war eine einseitige Interpretation, die von den jetzt in Moskau herrschenden Kreisen nicht so gesehen wird. Dort interpretiert man die Ereignisse von 1989 bis 1991 als eine Schlacht im Kalten Krieg, die verloren wurde, aber nicht als das Ende des Kalten Krieges.
Hans Graf Huyn, ein CSU-Außenpolitiker, brachte 1989 ein Buch mit dem Titel „Die Doppelfalle“ heraus. Darin vertrat er die These, dass Glasnost und Perestroika, bis hin zur Öffnung des Eisernen Vorhanges, eine Falle des engsten Führungskreises des KGB für den Westen waren. Erkennend, dass der real existierende Sozialismus den von US-Präsident Ronald Reagan begonnenen Rüstungswettlauf aufgrund der wirtschaftlichen Zustände im Sowjetreich nur verlieren könnte, beschloss man demnach die Grenzen zu öffnen, sich selber zurückzuziehen, aber im Hintergrund die Fäden in der Hand zu behalten.
Der Westen, so nach Huyn die These der KGB-Führung, würde dann in die ehemaligen Ostblockländer investieren um sie zu sanieren, aber die alten sozialistischen Kader würden nach einer gewissen Zeit die Macht wieder übernehmen. Also eine Falle für den Westen. Natürlich könnte dieser Plan auch schief gehen und sich überall Demokratie und Rechtsstaat durchsetzen, dann wäre der Plan gescheitert. Die Falle könnte also auch für die Kader in Moskau zuschnappen. Deshalb der Titel „Doppelfalle“.
Wer letztlich in dieser Doppelfalle gefangen wird, lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Richtig an der Analyse ist, dass der Westen viel Geld in die Länder gepumpt hat, dass es viele Investitionen gab, und dass sich damit die Lage in den meisten der einstigen Ostblockländer gebessert hat. Richtig ist auch, dass sich in den europäischen Ländern des ehemaligen Ostblocks ein demokratisches System etablieren konnte. Ebenso richtig ist, dass es aus der Region immer wieder Warnungen vor einem aggressiven Russland gab, die man im Westen leider ignoriert hat. Nur Ungarn und die Slowakei sind aufgrund ihrer Regierung etwas zu freundlich zum Despoten aus Moskau.
Selbst nach Russland flossen Hilfen, auch wenn dort sehr viel in den Händen der Oligarchen und Bürokraten versickert ist. Man hat versucht, Moskau in westliche Strukturen einzubinden, es gab den Dialog mit der Nato, es gab den EU-Russland-Dialog, es gab zahlreiche andere Formate, in denen man Kontakte gepflegt hat. In Österreich war das auf bilateraler Ebene der Sotschi-Dialog.
Diese Kanäle blieben auch noch offen, nachdem Putin 2008 in Georgien einmarschiert war. Sie blieben offen, als er die Krim annektiert und seine Truppen 2014 im Donbas einmarschiert sind. Man hat Putin weiterhin hofiert und die Gasabhängigkeit von Russland weiter erhöht. Der 24. Februar 2022 brachte hier eine Teilwende. Es wird sich aber noch zeigen, ob man im Westen bereit ist zu verstehen, dass es Putin um eine komplette Änderung der Weltordnung geht.
Er hat nämlich die Ereignisse von 1989 bis 1991 nicht als Ende des Kalten Krieges gesehen, sondern nur als die verlorene Schlacht. Seine bereits 2005 getätigte Aussage, wonach für ihn das Ende der UdSSR die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts war ist genauso bekannt, wie seine Aussage, dass er die Sowjetunion wiederherstellen würde, wenn er könnte. In der Ukraine versucht er es gerade mit einem Vernichtungskrieg. In Georgien versucht er es mit einem Oligarchenregime. In der Republik Moldau versucht er es mit der Besetzung eines Teiles des Landes.
Wir sehen in ganz Europa, dass die alten kommunistischen Netzwerke noch immer funktionieren, und eindeutig Partei für Putins Krieg ergreifen. Dazu kommt ein weiteres Netzwerk von sogenannten rechten Parteien. Sie selbst bezeichnen sich als Patrioten und missbrauchen damit diesen Begriff. Bei manchen dieser „Patrioten“ ist aber die Verbindung zu den alten kommunistischen Netzwerken eindeutig. Andrej Babis beispielsweise aus Tschechien, war Mitarbeiter bzw. Informant der kommunistischen Geheimpolizei in der CSSR.
Um weiter bei dem Bild der Doppelfalle zu bleiben. Diese Netzwerke von links und rechts arbeiten dafür, dass die Falle für den Westen zuschnappt, dass also der in Moskau ausgeheckte Plan – so es ihn in der Form tatsächlich gegeben hat – in Erfüllung geht.
Für Moskau ging der Kalte Krieg weiter, es war nur eine Schlacht verloren
Anders formuliert: Wenn der Westen, und hier insbesondere die Länder der Europäischen Union, der Ukraine alles Notwendige zur Verfügung stellt, um den Krieg militärisch für sich entscheiden zu können, dann wird die Doppelfalle sehr wahrscheinlich für Moskau zuschnappen. Wobei dazu Europa auch den Mut haben müsste auf einen Regimewechsel in Moskau hinzuarbeiten. Erst als es diesen Regimewechsel 1945 in Deutschland gegeben hat, konnte sich das Land demokratisch und rechtsstaatlich entwickeln. Hält sich Putin und sein System an der Macht, bleibt die Doppelfalle für den Westen weiter offen.
Im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1989 bis 1991 gilt es noch einen wichtigen Punkt zu erwähnen, der immer wieder über verschiedene Desinformationskanäle auftaucht: die sogenannte Nato-Osterweiterung. Man habe doch damals, im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung, Gorbatschow versprochen, dass die Nato sich nicht erweitern werde. Da kommt dann immer wieder die Aussage des damaligen US-Außenministers James Baker „not an inch“ oder auch eine Bemerkung des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, mit denen belegt werden soll, dass es dieses Versprechen gegeben habe.
Wir reden hier über die Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung. Die wurde am 3. Oktober 1990 vollzogen. Die Verhandlungen waren also davor. Es ging um den Status der sogenannten DDR, die unter anderem Teil des Warschauer Paktes war. Der aber hat damals noch existiert. Er wurde, wie die UdSSR erst Ende 1991 aufgelöst. Es kann also ein solches Versprechen gar nicht gegeben haben, weil aufgrund der Existenz des Warschauer Paktes eine solche Erweiterung der Nato gar nicht Gesprächsthema war, ja gar nicht sein konnte. Es wäre auch völlig unüblich, dass eine Vereinbarung dieser Tragweite nicht schriftlich festgehalten worden wäre.
Jetzt einmal abgesehen davon, dass sie gegen internationale Verträge verstoßen hätte. Bereits in der KSZE-Schlussakte – von Moskau unterzeichnet – wurde die Bündnisfreiheit der Länder festgeschrieben. In der Charta von Paris für ein neues Europa 1990 – ebenfalls von Moskau unterschrieben – wurde diese Vertragsfreiheit neuerlich festgeschrieben. Es gab auch keine Nato-Strategie einer Erweiterung. Was es dann gab war der Wunsch der unabhängig – nämlich nicht nur auf dem Papier – gewordenen Staaten, in der Nato Schutz vor einer Rückkehr des Moskauer Regimes zu finden. Wie wir heute sehen: der Wunsch war berechtigt.
Was es gab war ein Versprechen der Nato keine Atomwaffen in den ehemaligen Ostblockländern zu stationieren. Das wurde bis jetzt auch gehalten.
Damit aber wieder zurück zum 19. August 1989 und der Vorgeschichte zum Picknick. In Ungarn herrschte der sogenannte Gulasch-Kommunismus. Der Wille zur Abkehr von Moskau war unter anderem dadurch manifestiert, dass man sich darauf verständigt hatte, neue Gesetze so zu gestalten, dass sie möglichst EG-konform sind. Die Orientierung in Richtung europäische Einigung war klar.
Die wirtschaftliche Lage war miserabel. Der Staat genaugenommen pleite. Die Grenzanlagen waren kaputt. Fehlalarme waren an der Tagesordnung. Meist hat man die Alarme dann ignoriert. Für eine Reparatur oder gar eine komplette Erneuerung des Eisernen Vorhanges fehlte das Geld. Also fiel der ganz pragmatische Beschluss, die Grenzanlagen abzubauen. An der Grenze zur damaligen CSSR hat man damit begonnen.
Premierminister Miklos Nemeth, der Reformer
Politisch verantwortlich dafür war der damalige ungarische Ministerpräsident Miklos Nemeth. Er war Ökonom, kannte die Lage und wurde deshalb zu einem der wichtigsten Reformer. Dokumentiert ist seine Rolle unter anderem in einem als vertraulich eingestuften Bericht des britischen Botschafters in Ungarn nach London.
Am 27. Juni 1989 gab es den berühmten Fototermin an der Grenze bei Klingenbach, wo die Außenminister von Österreich und Ungarn Alois Mock und Gyula Horn den Grenzzaun durchschnitten haben. Das Foto ging um die Welt und war wohl für viele Deutsche aus der sogenannten DDR ein Motiv für einen Sommerurlaub in Ungarn. Es gab sogar eigene Flüchtlingslager für DDR-Bürger in Ungarn, weil so viele gekommen waren, in der Hoffnung, über Ungarn in die Freiheit zu gelangen.
Ein weiteres historisches Ereignis erfolgte am Tag darauf. Am 28. Juni 1989, dem Veitstag, hielt der serbische Tyrann Slobodan Milosevic seine berühmte Rede am Amselfeld. Das war der Auftakt zu zehn Jahren Krieg am Balkan. Das Beispiel zeigt, wie manchmal fast zeitgleich Ereignisse stattfinden, die aber versuchen die Geschichte in gegenteilige Richtungen zu drängen.
Es war aber nicht nur Ungarn, das sich von Moskau löste, sondern vor allem Polen. Lech Walesa, viele andere und die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc waren bereits weltweit bekannt. Auch wenn noch das Kriegsrecht in Polen verhängt wurde, so war doch das Ende des kommunistischen Regimes in dem Land eine Frage der Zeit. Im Westen war man allerdings nicht so ganz davon überzeugt, dass damals der Anfang vom Ende des Ostblocks eingeleitet wurde. Der Österreichische Gewerkschaftsbund ÖGB hielt fest an seinen offiziellen Kontakten zur kommunistischen Regime-Gewerkschaft in Polen.
Am 4. Juni 1989 gab es freie Wahlen in Polen. Solidarnosc eroberte dabei 99 von 100 Senatssitzen und alle der 160 frei zu wählenden Sitze im Sejm, dem polnischen Parlament. Zur Sicherheit hatten sich die Kommunisten davor aber noch 300 Sitze im Sejm reserviert. Mit Tadeusz Mazowiecki gab es dann zwei Monate später den ersten nichtkommunistischen Premierminister in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. In Polen hatte es übrigens auch 1956 einen Aufstand gegen die Kommunisten gegeben. Der Ungarn-Aufstand des gleichen Jahres ist hierzulande bekannter.
Präsident Ronald Reagan und Papst Johannes Paul II.
Nicht vergessen dürfen wir in diesem Zusammenhang den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan mit seiner klar antikommunistischen Politik und der berühmten Rede am Brandenburger Tor in Berlin, in der er Michael Gorbatschow aufrief, diese Mauer doch niederzureissen. Ebenso erwähnen muss man Papst Johannes Paul II., der mit seinem berühmten Ausspruch „habt keine Angst“ im Rahmen eines Besuches im noch kommunistischen Polen, seinem Heimatland, den Menschen hinter dem Eisernen Vorhang Mut zusprach.
Mitte der 80er Jahre ging von Moskau eine Initiative für direkte Gespräche zwischen der EG und dem Comecon aus. Otto von Habsburg, damals Präsident der Paneuropa-Union und Mitglied im Europäischen Parlament, war einer der Hauptvertreter einer anderen Strategie. Nicht mit Moskau über den Comecon sollte gesprochen werden, sondern mit den einzelnen Ländern direkt. Damit sollte den Satellitenstaaten der Sowjetunion mehr Eigenständigkeit gegeben werden.
1988 konnte Habsburg dann das erste Mal wieder nach Ungarn reisen. Es war exakt der 13. Juli. Ungarn hatte bereits die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der EG vereinbart. Habsburg war logischer Weise im EP in der entsprechenden Verhandlungsdelegation.
Der erste Besuch in Ungarn war aber kein offizieller, sondern ein privater. Ungarn hatte ihm geraten nicht unter seinem Namen einzureisen, sondern unter einem anderen Namen. Das tat er auch. Wie seine Tochter Walburga, die ihn begleitet hat, einmal erzählte, war aber schon beim Betreten des Landes an der Grenze den dortigen Beamten klar, wer da wirklich einreist. In Budapest strömten die Leute zusammen, wo immer er hinkam. Natürlich interessiert sich auch die Presse für ihn. Und er erklärt, dass es ihm mit dem Besuch darum geht, den Völkern Mitteleuropas über das Selbstbestimmungsrecht die Teilnahme an der europäischen Einigung zu ermöglichen. Im September 1988 werden dann offizielle Beziehungen zwischen Ungarn und der EG aufgenommen.
Einer der Gründe für die massive Bekanntheit von Otto von Habsburg in Ungarn war ein Dokumentationsfilm über ihn, den der bekannte ungarische Regisseur Peter Bokor produziert hatte. Die Kommunisten verboten die Ausstrahlung im Fernsehen. In den Kinos aber wurde der Film gezeigt.
Im Februar 1989 kam eine Delegation des ungarischen Parlamentes (noch kommunistisch) nach Straßburg. Ende Februar reiste Otto von Habsburg mit einer Delegation des Europäischen Parlamentes nach Ungarn. Unter anderem spricht er dort an der „Karl Marx Universität“. Karl Marx war übrigens als große Büste bei der Rede anwesend.
Im Juni 1989 ist er dann in Debrecen. Das ist bereits nach der Europawahl. Und er spricht über die Bedeutung der Europawahl für die Zukunft Ungarns und über die Annäherung Ungarns an die EG. Im Rahmen einer Diskussion nach einer Veranstaltung ging es auch darum, was von ungarischer Seite getan werden könnte, um Richtung Europa zu gehen. In diesem Gespräch entwickelte sich dann diese Idee des „Paneuropäischen Picknicks“. Bei einem Picknick an der Grenze sollte es möglich sein ohne große weitere Formalitäten die Grenze für einen kurzen Zeitraum zu öffnen, sodass man von österreichischer auf die ungarische Seite zum Picknick kommen konnte.
Die Schirmherren schickten Vertreter
Schirmherren des Picknicks waren Otto von Habsburg und Staatsminister Imre Pozsgay. Beide entschlossen sich nicht selbst an der Veranstaltung teilzunehmen. Otto von Habsburg schickte seine Tochter Walburga, die damals in Ungarn war. Pozsgay schickte seinen Mitarbeiter Laszlo Vass. Die offizielle Begründung warum beide Schirmherren nicht zum Picknick kamen ist, dass man durch die Anwesenheit der beiden doch bekannten und exponierten Persönlichkeiten die heikle politische Lage nicht noch irgendwie anheizen wollte, dass man Moskau nicht provozieren wollte.
Für Otto von Habsburg gab es noch ein ganz anderes Motiv nicht zu kommen. Er hat gesehen zu welchen, teils nostalgischen, Aufläufen seine Besuche in Ungarn wurden. Da wäre er im Mittelpunkt gestanden. Das wollte er vermeiden, ihm ging es um die Botschaft dieses „Paneuropäischen Picknicks“. Und diese Botschaft hat er in dem Grußwort, das Walburga Habsburg Douglas vorgetragen hat, formuliert. (Siehe dazu den Abdruck des Grußwortes.)
In einem schriftlichen Interview, das Otto von Habsburg wahrscheinlich 1993 einem ungarischen Journalisten gegeben hat (auf den Seiten, in denen Fragen und Antworten abgedruckt sind findet sich kein Datum, nur auf dem Begleitbrief aus Pöcking ist der 15. September 1993 vermerkt) schreibt er auf die Frage, ob er denn gewusst habe, was das Picknick für Folgen haben werde und wer an der Organisation beteiligt war:
„Ich konnte natürlich nicht wissen, was die Auswirkungen sein werden, aber man hatte das Gefühl, dass dies ein Moment sei, der unbedingt genutzt werden sollte. Diesbezüglich hat ja auch Minister Pozsgay in seinen bald erscheinenden Memoiren Entscheidendes gesagt. Das Picknick selbst wurde organisiert von der Paneuropa Union, vertreten durch mich, bzw. meine Tochter Walburga, und der österreichischen Paneuropa Union auf der einen Seite, und dem Demokratischen Forum von Debrecen auf der anderen Seite. Allerdings haben wir in ständigem Kontakt mit der Regierung gearbeitet.“
Ergänzt werden muss, dass auch das Demokratische Forum Sopron ganz wichtige Arbeiten für die Organisation des Picknicks vor allem dann vor Ort geleistet hat: von den behördlichen Genehmigungen bis zur Bühne.
In dem gleichen Interview wurde Otto von Habsburg auch gefragt, ob er einen Zusammenhang zwischen dem Aufstand von 1956 und dem Picknick von 1989 sieht. Dazu sagt er: „Zweifelsohne war das Paneuropa Picknick der zweite Schritt. 1956 hat den internationalen Kommunismus gebrochen. Das Paneuropa Picknick hat das Ende der Tyrannei in Mitteleuropa herbeigeführt.“
Eine Entscheidung zwischen Totalitarismus und Freiheit
Damals fiel nicht nur der Eiserne Vorhang, es fiel auch ein totalitäres Herrschaftssystem. Es war eine Entscheidung zwischen Freiheit und Totalitarismus. „Wir müssen feststellen, daß eine Koexistenz zwischen Freiheit und Totalitarismus langfristig unmöglich ist. Wir müssen der totalitären Versuchung Widerstand leisten, unter welcher Maske sie auch kommen möge.“ Diese Worte formulierte die Paneuropa-Union bereits in einer Grundsatzerklärung in den siebziger Jahren.
Der Kampf um die Freiheit war eines der zentralen Themen der Paneuropa-Arbeit seit Gründung der Organisation 1922. „Ohne Freiheit wäre Europa ein Körper ohne Seele, eine künstliche und zerbrechliche Konstruktion,“ hielt Richard Coudenhove-Kalergi bereits 1923 in seinem Buch „Paneuropa“ unmissverständlich fest. Mit der Freiheit verbunden ist immer die Verantwortung, die Würde des Menschen, die Pflicht, nach einem gebildeten Gewissen zu handeln.
Eng mit diesem Einsatz für die Freiheit war der Einsatz Paneuropas für die europäische Einigung. Das Schlagwort „Paneuropa ist ganz Europa“ hat die Paneuropa-Arbeit über mehrere Jahrzehnte geprägt. Die europäische Einigung, so man sie ernst nimmt, kann nicht auf Westeuropa begrenzt sein, sie muss offen sein für alle europäischen Länder.
Diese Möglichkeit war durch das Paneuropäische Picknick und die darauffolgende endgültige Grenzöffnung gegeben. Der Beitritt in die Europäische Union wurde auch zum erklärten Ziel der frei gewordenen Länder Mittel- und Osteuropas. Die Politik hat die Gunst der Stunde genutzt. Es wurden Beitrittsverhandlungen mit mehreren Ländern aufgenommen. In einer großen Erweiterungsrunde konnten schließlich am 1. Mai 2004 Estland, Lettland, Litauen, Tschechien und die Slowakei (die sich 1993 getrennt hatten), Polen, Ungarn und Slowenien der EU beitreten. Dazu kamen noch die Mittelmeerländer Malta und Zypern.
Rumänien und Bulgarien folgten 2007, Kroatien erst 2013. Aber schon ab 2004 trat eine gewisse Erweiterungsmüdigkeit ein. Dass in der Zwischenzeit ein Land wie Großbritannien die EU wieder verlassen hat, hat aber keine negativen Auswirkungen auf die Attraktivität der Europäischen Union auf zahlreiche weitere Staaten. Bereits 2003 hatte man den restlichen Ländern Südosteuropas (heute im EU-Jargon Westbalkan genannt) den EU-Beitritt in Aussicht gestellt. In Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien und Montenegro ist dieser Beitrittswunsch auch in der Bevölkerung verankert, am stärksten im Kosovo.
Serbien, das ebenso zu diesen Westbalkanländern gehört, spielt ein mindestens doppeltes Spiel. Gleichzeitig der beste Freund Moskaus und Pekings sein und mit der EU über einen Beitritt zu verhandeln passt nicht zusammen. Dazu kommt, dass in Belgrad de facto immer noch Leute aus dem alten Milosevic-Regime die Politik dominieren. Die fehlende außenpolitische Strategie der EU wird hier offensichtlich.
Eine klare Botschaft des Picknicks war die EU-Erweiterung
Über viele Jahre hatte man eine größere Erweiterung der EU mit der sogenannten Nachbarschaftspolitik ausgeschlossen. Davon betroffen waren Länder wie die Ukraine, Georgien, Moldau und andere. Es war deshalb eine klare Forderung der Paneuropa-Union, diese Nachbarschaftspolitik durch eine Erweiterungspolitik zu ersetzen. Um die verantwortlichen Politiker aufzurütteln musste erst der Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine beginnen.
Mittlerweile haben die Ukraine, Georgien und auch Moldau einen Beitrittskandidatenstatus. Die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen ist von der EU beschlossen. Allerdings hat man gegenüber Georgien wieder die Bremse angezogen, weil dort ein Oligarchenregime an der Macht ist, das eindeutig für Moskau spielt. Noch in diesem Jahr wird es in Georgien Wahlen geben, in denen sich entscheiden wird, ob das Land wieder unter die Kontrolle Moskaus fällt oder doch auf den europäischen Weg zurückkehrt. In der Republik Moldau wird es im Herbst Präsidentenwahlen und gleichzeitig ein Referendum über den Weg in die EU geben.
Aus einer europäisch strategischen Perspektive müsste man auch Armenien in den Kreis jener Länder aufnehmen, die für eine Mitgliedschaft in der EU in Frage kommen. Armenien ist der älteste christliche Staat. Auch dort gibt es starke Bestrebungen weg von Moskau hin zur EU. Insbesondere in der jüngeren Generation ist der Wunsch ausgeprägt.
Um einen Gedanken von Karl von Habsburg in seiner Rede zur Zukunft Europas aufzugreifen: In dieser Region, also Ukraine, Georgien, Armenien, Moldau, wird sich das künftige nachbarschaftliche Verhältnis zwischen Russland und der EU entwickeln. Es könnten diese Länder die Grenzregion zwischen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat auf der einen, europäischen Seite, und Despotie und Totalitarismus auf der anderen Seite werden.
Wenn wir also 35 Jahre nach dem Paneuropäischen Picknick die Botschaften dieses historischen Ereignisses zusammenfassen, die auch heute noch für die Paneuropa-Politik entscheidend sind, dann möchte ich das mit folgenden Schlagworten formulieren:
- Paneuropa ist ganz Europa. Die Erweiterungspolitik ist ein Teil einer strategischen europäischen Außenpolitik.
- Europa statt Nationalismus.
- Europa als Kultur und Schicksalsgemeinschaft.
- Freiheit statt Totalitarismus.
- Rechtsstaatlichkeit statt politischer Willkür.
- Friedenspolitik statt Kriegspolitik. Das bedeutet aber, dass der Angegriffene das Recht zur Verteidigung hat, dass die freie Welt das Recht oder gar die Pflicht hat, den Angegriffenen zu unterstützen. Wäre das nicht so, würden ja die Botschaften Freiheit statt Totalitarismus und Rechtsstaatlichkeit statt politischer Willkür konterkariert, weil der Aggressor sich durchsetzen würde.
Verrat an den Freiheitskämpfern von 1956
Weil das Paneuropäische Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze stattgefunden hat, und weil es von der ungarischen Regierung ermöglicht wurde, muss noch eine Schlussbemerkung angefügt werden: Es ist eine historische Schande, dass nun die Regierung genau dieses Landes Ungarn dem Nachbarn Ukraine eben diese Freiheitsrechte – damit meine ich Beitritt zur EU und auch zur Nato – verwehren möchte. Oder um es in Anlehnung an die zitierte Aussage aus dem Otto von Habsburg Interview zu formulieren: es ist ein Verrat an den Freiheitskämpfern von 1956!