Der Schengen-Vertrag garantiert den Bürgern in der EU Freiheiten – doch Krisen lassen alte nationalistische Urgeister wieder auferstehen. Liebgewonnene Freiheiten soll man niemals für selbstverständlich halten. Von Stefan Haböck, internationaler Referent der Paneuropabewegung Österreich.
Schauplatz war das Moselschiff MS Marie-Astrid, am 14. Juni 1985 nahe einem beschaulichen Städtchen in Luxemburg. Hier unterzeichneten europäische Spitzenpolitiker das Schengener Übereinkommen, welches den Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen und die Einführung des freien Personen- und Warenverkehrs vorsieht. Ein Meilenstein in der Geschichte des – zu diesem Zeitpunkt noch durch den Eisernen Vorhang in Freiheit und Unfreiheit geteilten – Europa.
Obwohl von den damals zehn nur fünf Mitgliedsstaaten der EG an der Unterzeichnung beteiligt waren, war es nicht nur rechtlich sondern auch politisch ein wichtiger Schritt zur Schaffung weiterer Freiheiten für die Bürger innerhalb dieser Gemeinschaft. Ein Signal, dass die Staaten die Zusammenarbeit vertiefen wollen.
Passloses Reisen, wie es oft suggeriert wird, ist es nicht. Denn natürlich muss man immer ein Ausweisdokument mit sich führen, wenn man Staatsgrenzen überquert. Aber es war eine Abschaffung der stationären Kontrollen an den Grenzen zwischen diesen Staaten. Und auch, wenn vor allem in den Urlaubssaisonen die Vorzüge gepriesen werden, ist es zu oberflächlich, in Schengen eine Maßnahme zum stressfreien Ausflug zu sehen. Unvorstellbar was es bedeuten würde, die Millionen täglichen oder wöchentlichen „Grenzgänger“, zum Beispiel Pendler, ständig zu kontrollieren.
Künstliche Grenzen –historische Bindungen
Die Grenzen zwischen den meisten Regionen in der EU sind – nicht rechtlich, aber historisch – fließend. Wer behauptet, die Menschen in Kehl wären denen in Straßburg (oder umgekehrt) überlegen und total anders, weil es auf der „richtigen Seite“ der „Grenze“ läge, kann nur ein Ignorant oder unverbesserlicher nationaler Chauvinist sein. Wer schon einmal einen Tag an diesem Übergang zwischen den Staaten gesehen hat, welch reger Austausch von Waren, Personen und Dienstleistungen hier erbracht wird (so wie es historisch immer war – wenn nicht gerade Kriege alles zerstörten), kann nicht für eine künstliche Trennung durch stationäre Kontrollen eintreten.
Schengen ist aber nicht nur Symbol für Reisen aus Lust und Laune heraus (was zum Glück Dank des in Europa erwirtschafteten Wohlstandes für viele möglich ist), sondern auch für die Wirtschaft von großer Bedeutung.
Freier Binnenmarkt statt Protektionismus
Bis 1918 gab es in Mitteleuropa einen freien Binnenmarkt, der von der heutigen Ukraine bis zur Adria reichte. Dieser war durch nationale Zollschranken zerstückelt worden. Der nationale Protektionismus aber machte die wirtschaftliche Lage schlimmer. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man die Lektion gelernt. Das Ziel war nun, einen freien Warenaustausch innerhalb der EWG, später EG zu ermöglichen.
Der Binnenmarkt wurde – richtigerweise – zum Kernelement der europäischen Einigung gemacht. Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne funktionierende Wirtschaft gibt es keinen Wohlstand. Jeder einzelne Schritt in der Umsetzung des Binnenmarktes und der vier Grundfreiheiten bis hin zur Überwindung des Eisernen Vorhangs vor 30 Jahren hat allen Ländern Europas gut getan.
Richtig kurios wird die Sehnsucht nach nationalen Grenzen in Europa aber dann, wenn man bedenkt, dass Bürger früher zwischen Czernowitz (heutige Ukraine) und Sarajevo (Bosnien-Herzegowina) völlig problemlos ohne Grenzkontrollen reisen konnten, und Kosovaren mit jugoslawischem Pass ebenfalls weniger Bürokratie ausgesetzt waren beim Reisen als heute.
Zusammenarbeit stärkt die Staaten
Eine Mär ist es natürlich, dass Schengen bedeutet, dass jeder völlig unkontrolliert alles machen kann. Das System ist viel komplexer. Schengen ist Teil des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Die justizielle Arbeit in der EU wurde sukzessive verstärkt, was begrüßenswert ist. Und natürlich ist die vertiefte Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit ein wichtiger Punkt. Schengen beinhaltet nämlich ein einheitliches System, das SIS (Schengener Informationssystem), welches Einreisevoraussetzungen beinhaltet. Bürger von außerhalb des Schengenraumes benötigen ein Schengen-Visum. Aufenthaltsverbote werden im gesamten Schengenraum erfasst.
Man muss festhalten, dass die Schengener Abkommen und alle verbundenen Regelwerke die Staaten auch entlasten. Lehnt ein Schengenstaat zum Beispiel jemanden ab, wird dieser in allen Mitgliedsstaaten des Abkommens abgelehnt. Das macht die Staaten gleich, da die Entscheidung eines kleinen Landes gleich viel zählt wie die eines größeren. Zudem erleichtert es Fahndungen, Ablehnung und Einreisesperren für Verbrecher, es schafft Möglichkeiten grenzüberschreitender und gemeinsamer Observationen und verbessert den Informationsaustausch. Allerdings muss ein Schengen-Visum nicht automatisch in allen Schengen-Staaten gelten. Für Kosovaren beispielsweise gilt das Schengen-Visum nicht für Spanien. Dort dürfen sie nicht einreisen.
Dieser Informationsaustausch ist ein wichtiger Ansatz, denn Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Dem Staat kommt hier die Aufgabe zu, Sicherheit zu schaffen. Dass diese Möglichkeiten des Staates durch Freiheits- und Grundrechte, durch Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, beschränkt sind, ist eine der wichtigsten Errungenschaften im freien Europa nach dem Fall diktatorischer Systeme. Doch auch hier muss man immer kritisch hinterfragen, wie das Verhältnis Sicherheit/Freiheit steht. Immer mehr wird die Überwachung des Bürgers durch den Staat unter dem Deckmantel der Sicherheit forciert.
Das „freie Reisen“ in Europa zieht unter anderem biometrische Pässe und die umfassende Erfassung von Daten unbescholtener Bürger mit sich. Eine immer stärker werdende Überwachung der Bürger müsste die Menschen jedenfalls deutlich mehr interessieren.
Ungeachtet der Kritik an vielen staatlichen Maßnahmen ist es aber klar, dass „der Staat“ durchaus Interesse daran hat zu wissen, wer sich auf seinem Staatsgebiet aufhält. Und hier vor allem vor dem Hintergrund eines starken Sozialstaates, wie er in der EU existiert. Denn eines muss man schon deutlich festhalten: Die Freiheiten der EU-Bürger und der Bewohner des Schengenraumes gehen einher mit einem umfassenden Regelwerk, vielen Abkommen und einer Datenerfassung dieser Bürger. Was beim Thema Migration nach Europa und ihrer Kontrolle eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt.
Staatsversagen gefährdet die Freiheiten
Nicht erst seit den Geschehnissen 2015 ist das Schengensystem und die damit verbundene Freiheit für die Bürger Kritik und Angriffen ausgesetzt. Doch 2015 offenbarte die Fragilität der Freiheiten in Europa, wenn in Krisen, verursacht durch staatliche Fehler, Politiker auf Symbolpolitik und Populismus setzen. Schengen, und das wird nicht oft erwähnt, beinhaltet unter anderem eine wichtige Bedingung: Die Aufhebung von Kontrollen an den Binnengrenzen der teilnehmenden Staaten verpflichtet zu einem verbesserten Schutz der Außengrenzen! Kurzum: Jeder Staat mit Außengrenze hat gefälligst diese zu kontrollieren.
Jahrelang haben die Staaten einander dabei gegenseitig im Stich gelassen. Man hat Verantwortungen abgeschoben. Sollen doch „die Griechen“, „die Italiener“, und so weiter das selber regeln. Lampedusa? Geht uns nichts an, auch wenn man seit den 1990er Jahren wusste, dass es hier in Zukunft Hotspots von Migrationsbewegungen geben kann. Doch man glaubte, mit Zahlungen an die betroffenen Länder sei alles geregelt.
Große Gefahr am Walserberg
2015 zerbröckelte das bis dahin praktizierte System. Populisten und Nationalisten witterten die Chance, das ungeliebte System der Freiheit der Bürger zurechtzustutzen. Während man an der südöstlichen Außengrenze die Drecksarbeit an autokratische Regime und ärmere Staaten auslagerte, dabei aber moralisch belehrte, wurden am Walserberg Grenzen aufgezogen. Wer zum Chiemsee will, der steht im Stau. Möglich ist das dadurch, dass das Schengensystem in kritischen Situationen Grenzkontrollen erlaubt. Befristet. Und nach Ansuchen durch den Mitgliedsstaat. Bis heute scheint die Gefahr am Walserberg sehr hoch zu sein.
Begründet werden Kontrollen mitten in Europa zwischen befreundeten Staaten damit, dass der Außengrenzschutz nicht gewährleistet sei. Man fragt sich natürlich, wieso 34 Jahre nach Schengen-1, das den Außengrenzschutz als Bedingung für die Aufhebung der Binnengrenzen nennt, die Außengrenze nicht ausreichend geschützt ist. Ein Versäumnis nach Einführung von Schengen war es, aufgrund nationaler Egoismen und kleinlicher Befindlichkeiten, nicht einen gemeinsamen europäischen Grenzschutz aufzubauen. Die Last, vor allem in einer sich erweiternden EU, nur auf die Grenzstaaten aufzuteilen anstatt auf alle, war unsolidarisch und kurzsichtig. Mit Frontex wurde zwar eine Behörde geschaffen, die sich „um den Grenzschutz“ kümmern sollte. Aber nur unterstützend für die nationalen Behörden. Und auch hier nicht voll ausgestattet.
Während die Europäische Kommission und das Europäische Parlament (also direkt gewählte Abgeordnete aus den Mitgliedsländern) für eine Aufstockung von Frontex und ein robustes Mandat warben, blockierten manche Staaten diese logische Entwicklung. „Keine ausländischen Beamten auf unserem Boden.“ So hieß es von manchen Regierungen. Mit „ausländisch“ meinten sie übrigens Angehörige von befreundeten EU-Staaten. Doch selbst 2015 konnte die Staaten nicht dazu bringen, endlich gemeinsam tätig zu werden. Frontex sollte 2027 (nun 2024) aufgestockt werden – ein Jahrzehnt nach dem Ereignis, das angeblich Europa so erschütterte. Grund: kein Geld. Kein Personal. Und kleingeistiges Beharren auf angeblicher Souveränität. So wichtig ist manchen Staaten das Thema Grenzschutz.
Zum Personal sei veranschaulicht: 500 Polizisten der neugegründeten Bayerischen Grenzpolizei kontrollieren an den Grenzübergängen Bayerns zu Oberösterreich. Bis 2023 sollen es 1.000 sein. Zusätzlich zur Bundespolizei. Für Frontex hätten 28 Staaten 10.000 aufstellen sollen.
Großbritannien machte nicht mit
Das Thema Souveränität spielte auch vor der Debatte rund um den Brexit eine wichtige Rolle. Die Nationalisten rund um die Leave-Kampagne beklagten laut den Souveränitätsverlust des – doch sehr geschrumpften – Empire innerhalb der EU. Als Beispiel mussten hierfür oft Schengen und die verbundenen Freiheiten herhalten. Man muss gar nicht auf die ungustiösen, rassistischen und xenophoben Kampagnen gegen „Ostarbeiter“ (in Form polnischer Installateure) eingehen, die von – der Kolonialzeit, als man noch die Wellen beherrschte, nachtrauernden – Nationalisten gespielt wurden.
Es reicht, wenn man sich auf sonstige Immigration bezieht. Denn dank der EU wäre es ja dem United Kingdom nicht mehr möglich gewesen, Herr über die eigenen Grenzen zu sein. Das war natürlich falsch. Das Vereinigte Königreich ist nämlich gar nicht Vollmitglied im Schengensystem. Es nimmt eingeschränkt daran teil, hauptsächlich in Form von polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit. Selbstverständlich kontrolliert das Vereinigte Königreich auch während der Mitgliedschaft in der EU seine Grenzen. Heathrow-Besucher werden die langen Schlangen am Airport kennen.
Durch viele Ausnahmen ist es Großbritannien erlaubt, Grenz- und Zollkontrollen, auch des Verkehrs aus anderen EU-Mitgliedstaaten, in das britische Hoheitsgebiet durchzuführen. Zuständig dafür ist das Home Office, sozusagen das Innenministerium des Vereinigten Königreichs. Zuständig für die Grenzen des Königreichs war von 2010 bis 2016 eine gewisse Theresa May. Nachdem 52 Prozent bei einem Referendum meinten, dass unter anderem der Grenzschutz des UK nicht perfekt war, wurde sie neue Premierministerin.
EU-Grenzschutz ist Subsidiarität
Es wäre eine sinnvolle Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips, den Grenzschutz auf europäischer (= EU) Ebene zu organisieren und ihn auch mit ausreichenden Mitteln aus dem Budget der EU zu finanzieren. Aber die Mitgliedsländer wollen nicht mehr EU-Beiträge zahlen, das Problem wird durch den Brexit zusätzlich verschärft. Das ist einerseits nachvollziehbar, andererseits konterkariert es dann auch den Ruf nach Subsidiarität (siehe oben) und den Willen zum effizienten Grenzschutz.
Kleinräumige Binnengrenzen sind jedenfalls ein Widerspruch zu den Grundfreiheiten. Diese Grundfreiheiten sind aber Grundlage des Erfolgs und des Wohlstandes und der Freiheit im demokratischen, friedlich vereinten Europa. Wer die Grundfreiheiten angreift, greift damit das Fundament der EU an.