Das gute Abschneiden der AfD – nicht überraschend, aber doch für viele erschreckend – dominiert den Nach-Wahl-Diskurs in Deutschland. Bei aller Verunsicherung, die dadurch entsteht, gibt es allerdings noch keinen Anlass zur Panik. Gefragt ist jetzt vielmehr eine Mischung aus Besonnenheit und Mut. Eine Analyse von Clemens Schneider.
Unterschiedliche Perspektiven auf den Wahlausgang
Am Sonntagabend hätte man in Berlin meinen können, das Armageddon – die biblische Endzeitschlacht – stehe bevor. Wütende Demonstrantenhorden sammelten sich vor dem Gebäude, in dem die AfD ihre Wahlparty veranstaltete. Rund hundert Abgeordnete von CDU, CSU und SPD mussten ihre Plätze räumen. Alle drei Parteien hatten die schlechtesten Wahlergebnisse ihrer Geschichte eingefahren. Die CSU hatte ein Fünftel ihrer Wähler verloren, während die AfD in Bayern ihr bestes westdeutsches Ergebnis erzielte.
Die beiden Parteien am rechten und linken Rand haben zusammengezählt Ergebnisse zwischen 15,5 Prozent in Schleswig-Holstein und 43,1 Prozent in Sachsen geholt. Mehr als jeder fünfte Wähler hat für eine Partei gestimmt, die Schießbefehle entweder in ihrer Vergangenheit gerechtfertigt hat oder sie in Zukunft gerne sähe. (Wobei hier anzumerken ist, dass die Linke, trotz sträflich vernachlässigter Vergangenheitsbewältigung, in den ostdeutschen Landesverbänden in der Regel gemäßigt und pragmatisch ausgerichtet ist, und zumindest dort sicherlich keine Gefahr für die freiheitlich demokratische Ordnung darstellt.) Das ist die eine Perspektive.
Auf der anderen Seite kann man das Ergebnis auch durchaus anders deuten. Die vergangene Große Koalition hat Entscheidungen getroffen, die dazu geführt haben, dass in den letzten beiden Jahren über eine Million Flüchtlinge und Asylsuchende nach Deutschland einreisten. Eine Entscheidung, die von Grünen und FDP zwar im Detail, aber kaum im Grundsatz kritisiert wurde, und von einem Teil der Linken mitgetragen wurde. Trotz dieser Ausnahmesituation haben nur etwa vier Millionen Wähler der einzigen Partei ihre Stimme gegeben, die deutlich gegen diese Maßnahme Position bezogen hat.
Die anderen 42 Millionen wünschen sich vielleicht eine besser organisierte und mitunter auch restriktivere Politik in dieser Frage, wollten aber nicht ein deutliches Signal dagegensetzen. Das ist bemerkenswert. Noch nicht mit eingerechnet ist dabei, dass die AfD sicherlich auch viele pure Proteststimmen anziehen konnte. Man kann sicher gut darüber diskutieren, wie klug es ist, seinen Protest gegenüber der Politik durch die Wahl einer Partei auszudrücken, deren Vertreter deutsche Staatsbürger in Anatolien „entsorgen“ wollen, die „Leistungen“ der Wehrmachtssoldaten gewürdigt wissen wollen und sogar den Holocaust leugnen. Klar ist aber auch, dass nicht jeder AfD-Wähler solchen Äußerungen zustimmen würde.
Orientierungsprobleme für die künftige Regierung
Die Wahl war in jedem Fall ein Weckruf. Auch wenn manches darauf hinweist, dass die AfD auch weiterhin hauptsächlich damit beschäftigt sein wird, sich selbst zu zerfleischen, und die vollständig Derangierten in den eigenen Reihen irgendwie einzufangen – die Unzufriedenheit der Wähler würde selbst dann nicht verschwinden, wenn die AfD am Ende der Legislaturperiode völlig zerfleddert wieder aus dem Bundestag herausfliegen würde. Diese Wahl war im wahrsten Sinne des Wortes eine Apokalypse, denn das griechische Wort bedeutet eigentlich Enthüllung. Enthüllt wurde Unzufriedenheit mit der derzeitigen Politik. Und das nicht nur durch die Stimmen für die AfD. Auch die Gewinne der anderen kleineren Parteien sprechen eine deutliche Sprache. Die SPD verlor 380.000 Stimmen an die Grünen, 430.000 an die Linke und 450.000 an die FDP, die aus dem CDU-Lager sogar 1,35 Millionen Stimmen ziehen konnte.
Es wird eine ganze Weile dauern, bis eine Koalitionsregierung stehen wird. Es wird nicht leicht werden für diese neue Regierung, etwas gegen die Unzufriedenheit zu tun. Gerade dann nicht, wenn es eine Jamaika-Koalition werden sollte, in der zwei Parteien beteiligt wären, die soziologisch und atmosphärisch in Maximaldistanz zum klassischen AfD-Wähler stehen. Die erste Schwierigkeit wird schon darin bestehen, die eigentlichen Ursachen für die Unzufriedenheit zu identifizieren: Deutschland geht es derzeit wirtschaftlich so gut wie kaum je in der Geschichte, die Arbeitslosigkeit sinkt und sinkt. Die Gegenden, in denen die AfD mit am stärksten ist, haben ohnehin die niedrigsten Anteile an Migranten und Flüchtlingen, wenn man von einigen wenigen westdeutschen Gebieten wie Gelsenkirchen oder Heilbronn absieht.
Bleibt fast nur die innere Sicherheit als das wahrscheinlich einzige politische Feld, das in Deutschland momentan etwas fragil ist, wenn auch bei weitem nicht so sehr, wie es etwa AfD-Politiker suggerieren. Doch selbst wenn die Koalition hier tätig würde – die Effekte einer veränderten Politik würden wohl erst in einigen Jahren deutlich erkennbar. Hinzu kommen noch die Zurückhaltung von FDP und Grünen auf diesem Gebiet, und die Tatsache, dass viele der damit zusammenhängenden Fragen gar nicht in die Kompetenz des Bundes fallen.
Zugbrücken und Endzeitschlachten
In einem bemerkenswerten Artikel im Economist vom letzten Jahr wurde unter der Überschrift „Drawbridges up“ – „Zugbrücken hoch“ die These vertreten, dass die politischen Auseinandersetzungen heute nicht mehr zwischen rechts und links verlaufen, sondern zwischen offen und geschlossen. Die letzten Wahlen in den Ländern des Westens deuten darauf hin, dass diese These valide ist. Trump und Corbyn, Wagenknecht und Gauland stehen eben unabhängig von ihrer Verortung im politischen Spektrum für die hochgezogenen Zugbrücken. Ihre Botschaft ist von apokalyptischen Szenarien geprägt: Sie empfehlen sich als Führer der entscheidenden Schlacht gegen Ausbeuter oder Ausländer. Wenn man sich auf diese Bilder einlässt und wie die Anti-AfD-Demonstranten am Sonntagabend in Berlin die offene Feldschlacht sucht, bestätigt man damit diese Interpretation. Die Wahlergebnisse der AfD sind aber gerade keine Apokalypse im Sinne eines Weltuntergangs, sondern im Wortsinn eine Enthüllung.
(Text setzt sich unter dem Bild fort.)
Die Antwort auf diese Enthüllung ist leider weniger leicht zu geben als die Antworten, die populistische Parteien anzubieten haben, von „Grenzen dicht“ zu „mehr Umverteilung“. Zunächst sollte man sich nicht irremachen lassen und sich auf gar keinen Fall auf das Spiel einlassen, das die „Anti-Establishment“-Parteien gerne spielen würden. So vertieft man nur Spaltungen und reißt Kommunikationsfäden ab. Sicherlich ist es auch geraten, die eigenen politischen Profile etwas zu schärfen. Es kann für die Dynamik einer Koalitionsregierung durchaus nützlich sein, wenn man nicht als geschlossener Block auftritt. Die Kanzlerin wird ihr über die letzten zwölf Jahre ja durchaus erfolgreiches „Durchmerkeln“ überdenken müssen. Die Gewinne der kleinen Parteien zeigen, dass klare Standpunkte erwünscht sind. Man sollte die in Demokratien immer unerlässliche Notwendigkeit des Kompromisses eben nicht verwechseln mit inhaltlicher Gleichförmigkeit. Kompromisse entstehen ja gerade dadurch, dass Wünsche und Vorstellungen klar und deutlich formuliert werden.
Wir schaffen das!
Schließlich sollte man sehr genau darüber nachdenken, wie man dem Problem der Unzufriedenheit nachhaltig begegnen kann. Es mag einen Gedanken wert sein, die Lösung nicht von den politischen Verantwortlichen in Berlin zu erwarten. Wir erwarten ohnehin schon viel zu viel von der großen Politik. Das ist gerade eine der Ursachen des Aufstiegs der Populisten. Die Hauptlast der Problemlösung liegt jedoch vor Ort: bei Bürgermeisterinnen und Polizeipräsidenten, bei Schulleitern und Lokalredakteuren, bei Fußballtrainern und Sozialarbeiterinnen. Die große Politik muss darauf achten, diesen Menschen nicht in den Rücken zu fallen; ihnen beizustehen, wo es angebracht ist; und vor allem ihnen zuzutrauen, diese Aufgabe zu erfüllen. Denn an der Wurzel vieler Probleme liegt gerade der unerfüllbare Anspruch der Politik, die großen Fragen beantworten zu können, während die kleinen Probleme oft unerledigt beiseitegeschoben werden.
Die kommenden Jahre werden spannend für Deutschland. Die Politiker, die jetzt gerade in den Bundestag gewählt wurden, müssen vor allem Mut und Besonnenheit aufbringen. Nicht zuletzt den Mut, zuzugeben, dass sie weder zuständig noch befähigt sind, alle Probleme zu lösen. Und die Besonnenheit, sich nicht in Endzeit-Szenarien hineindrängen zu lassen, so attraktiv es auch scheinen mag, die „Guten“ und „Bösen“ eindeutig identifizieren zu können. Die kommende Regierung sollte nicht den großen Wurf versuchen, um gesellschaftliche Einheit wiederherzustellen. Sie sollte sich darauf konzentrieren, die konkreten politischen Herausforderungen zu meistern, die sich ihr stellen werden. Damit hat sie schon mehr als genug zu tun. Wut, Ärger, Enttäuschung, Perspektivlosigkeit und Angst hingegen können nur gemildert und gemindert werden durch die Menschen, die in Deggendorf und Bautzen, in Duisburg und Berlin-Marzahn daran arbeiten, dass Menschen wieder Hoffnung haben können. Die Menschen, die das tun, waren schon immer die größten Helden der Geschichte. Sie sind es, die immer wieder das Armageddon verhindert haben. Sie werden es auch diesmal schaffen.
Clemens Schneider, geboren 1980, ist Geschäftsführer des unabhängigen Think Tanks Prometheus-Institut in Berlin. Neben seiner Arbeit für Prometheus und seiner Vortragstätigkeit schreibt er an einer Doktorarbeit über den englischen Historiker Lord Acton und dessen Freiheitsverständnis.