Im Verbund mit den Grundfreiheiten garantiert Schengen den EU-Bürgern eine bisher nie gekannte Freiheit. Die Corona-Krise zeigt nun deutlich auf, wie sich geschlossene Grenzen in einem vereinten Europa auswirken. Von Stefan Haböck, internationaler Referent der Paneuropabewegung Österreich.
1985 unterzeichneten mehrere europäische Staaten das Schengener Übereinkommen, welches den Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen und die Einführung des freien Personen- und Warenverkehrs vorsieht. Ein Meilenstein in der Geschichte des, zu diesem Zeitpunkt noch in Freiheit und Unfreiheit geteilten, Europa. 1995 trat Österreich diesem Abkommen bei, 1997 wurden die Grenzkontrollen zu den EU-Nachbarn eingestellt.
Schengen war nicht nur rechtlich, sondern auch politisch ein wichtiger Schritt zur Schaffung weiterer Freiheiten für Bürger innerhalb dieser Gemeinschaft. Nicht umsonst heißt das Fundament des wichtigsten Teils der EU, des Binnenmarktes, „Grundfreiheiten“. Es zeigt die Intention, die hinter der stärkeren europäischen Integration in Europa steht.
Diese Grundfreiheiten umfassen die Dienstleistungs-, Warenverkehrs-, Kapital- und Personenfreizügigkeit. Gerade letztere stellt einen enormen Gewinn für europäische Bürger dar.
Künstliche Grenzen gegen historische Verbindungen
Die Grenzen innerhalb Europas sind meist historisch fließend. Gerade in den Regionen sind die Menschen unabhängig des Nationalstaates miteinander verbunden. Hier seien das Elsass und die Rheingebiete, Südtirol und Tirol oder Westungarn und Burgenland genannt. Wer bei so stark kulturell, historisch und wirtschaftlich eng verwobenen Gebieten eine „richtige“ und „falsche“ Seite sieht, zu der man sich abgrenzen müsste, kann nur ein Ignorant sein.
Während die Grundfreiheiten die Grundlage des vereinten Europas sind, geht Schengen noch einen Schritt weiter und entbindet auch von der „alltäglichen“ Kontrolle von Bürgern.
Mythos Schengen
Doch ist es ein Mythos, dass Schengen zu „unkontrolliertem Reisen“ führt. EU-Gegner verbreiten diese Unwahrheit seit jeher. Im Vereinigten Königreich haben die Brexiters diese Mär als eine Grundlage ihrer Kampagne gewählt. Dabei war das UK nicht mal Vollmitglied in Schengen! Selbstverständlich führte es immer Einreisekontrollen durch.
Das Schengen-System ist viel komplexer, als es die Reduzierung auf „freies Reisen im Urlaub“ suggeriert. Als Teil des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ wurden die justizielle Arbeit in diesem Raum sukzessive verstärkt und Einreisebestimmungen vereinheitlicht (was aus einem Wulst an 27 nationalen Vorgaben ein überschaubares System machte). Es erleichtert Fahndungen sowie Einreisesperren und verbessert den Informationsaustausch. Es hilft also auch den Staaten.
Aussetzung von Schengen schadet der Wirtschaft
Vor allem in der Urlaubssaison werden die Vorzüge von Schengen gepriesen. Das ist aber viel zu oberflächlich, Schengen ist nicht in erster Linie eine Maßnahme zum stressfreien Ausflug. Wobei angemerkt sei: Dass Schengen Symbol für Reisen aus Lust und Laune heraus ist, verdanken wir auch der Tatsache, dass immer mehr Menschen reisen können. Dank des Wohlstandes, den uns der Binnenmarkt gebracht hat.
Schengen ist grundsätzlich eine enorme Entlastung für alle im Wirtschaftsleben stehenden Menschen! Unvorstellbar was es bedeuten würde, die Millionen Pendler zu kontrollieren. Laut einer Mitteilung der EU-Kommission wurden die Schengen-Binnengrenzen im Jahr 2017 1,25 Milliarden Mal überschritten. Man stelle sich da nun Passkontrollen von jedem einzelnen vor. Heute für viele Bürger nicht mehr vorstellbar. Wer ein Bild davon bekommen möchte, spricht mit Menschen, die eine Busreise in die EU unternehmen und an der Grenze Stunden ausharren müssen.
Die Wiedereinführung stationärer und durchgängiger Personenkontrollen würde einen so großen finanziellen Schaden anrichten, dass es de facto den Binnenmarkt zerstören würde. Und damit die EU. Wohl mit ein Grund, wieso es manche Gegner der europäischen Integration fordern? Der Binnenmarkt wurde – richtigerweise – zum Kernelement der europäischen Einigung. Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne funktionierende Wirtschaft gibt es keinen Wohlstand.
Corona zeigte, was geschlossene Grenzen bedeuten
Die Anfang des Jahres 2020 über Europa hereingebrochene Corona-Krise führte zu teils drastischen Maßnahmen der Staaten. Eine der striktesten Maßnahmen war die vollständige Schließung aller Grenzen zwischen den Staaten. Ein aufgrund der globalen Pandemie und der drastischen Prognosen eine nachvollziehbare Maßnahme. Doch diese muss zeitlich begrenzt sein. In der Nachbetrachtung zeigt die Schließung der Grenzen jedenfalls deutlich, welche Auswirkungen folgten.
Manche Regierungen haben Ausfuhren von, teils lebensnotwendigen, Gütern in EU-Partnerländer unterbunden. Zwar rechtskonform, aber es hat der europäischen Einigung so viel Schaden zugefügt, dass fraglich ist, ob dieses Vertrauen jemals wieder aufgeholt wird. Die geschlossenen Grenzen haben auch den Warenverkehr so sehr beeinträchtigt, dass die EU-Kommission rasch reagierte und sogenannte „Green lanes“ einführte, mit denen der Warenverkehr rascher über Grenzen gelotst werden konnte. Wie sehr der Tourismus, für viele Staaten ein wichtiger Wirtschaftszweig, unter geschlossenen Grenzen leidet, ist ebenfalls gerade mitzuerleben.
Doch neben den wirtschaftlichen Folgen offenbart sich durch die Corona-bedingten Grenzschließungen auch die Fragilität zweier für die Gesellschaft enorm wichtiger Bereiche: Des Pflege- und des Lebensmittelbereichs. Durch die Schließung kam quasi über Nacht die Arbeit der ost- und südosteuropäischen Erntehelfer und Pflegekräfte zum Erliegen. Das, unter anderem nach einer Kampagne gegen „Ostarbeiter“ aus der EU ausgetretene, UK flog mit Charterflügen Erntehelfer aus Osteuropa ein.
In Österreich wurde mit Ungarn eine Sonderregelung ausgearbeitet, da Ungarn seinerseits ebenfalls die Grenze geschlossen hielt. Die Regierung bemühte sich, Sonderzüge für Pflegerinnen aus Rumänien zu ermöglichen.
Die Realität schlägt den Populismus
Corona hat binnen weniger Stunden die destruktiven Kampagnen der EU-Gegner und der Binnengrenzen-Befürworter einem Realitätscheck unterworfen und entlarvt. Geschlossene Grenzen in einem vereinten Europa führen zu einem wirtschaftlichen Niedergang, zu Arbeitslosigkeit und zu menschlichem Leid. Kleinräumige Binnengrenzen sind ein Widerspruch zu den Grundfreiheiten. Diese Grundfreiheiten sind Grundlage des Erfolgs, des Wohlstandes und der Freiheit im demokratischen, friedlich vereinten Europa. Wer die Grundfreiheiten angreift, greift damit das Fundament der EU an. Corona hat es uns allen deutlich gezeigt.