Vor mehr als eintausend Tagen(der Artikel wurde ursprünglich für die Druckausgabe der Zeitschrift Paneuropa im Dezember 2024 verfasst) begann Russland seine Vernichtungsinvasion gegen die Ukraine. Der Krieg begann bereits 2014 mit dem Einmarsch auf der Krim und in der Ostukraine. Noch immer prägen verzerrte Narrative den öffentlichen Diskurs über diesen Aggressionskrieg. Zeit, um die bequemen Mythen zu hinterfragen. Von Anna Pattermann
Der 19. November markierte 1.000 Tage seit Beginn der großangelegten russischen Invasion gegen die Ukraine. Der 1.000. Tag ist ein symbolisches Datum – eine Gelegenheit zur Reflexion. Doch stellt sich die Frage: Wird diese Reflexion tatsächlich durchgeführt? Die Antwort darauf bleibt oft unbeantwortet.
Der 19. November ist ein Tag der Reflexion, aber auch ein Tag der Widersprüche. Auf der offiziellen Instagram-Seite des österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen hieß es: „1.000 Tage seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. […] Putin kennt keine Gnade.“ Für uns Ukrainerinnen und Ukrainer begann der Krieg jedoch nicht im Februar 2022, sondern mit der russischen Annexion der Krim am 20. Februar 2014 – einer Antwort auf die demokratische, pro-westliche Bewegung des Maidan und die Revolution der Würde. An diesem symbolischen Tag ergeben sich somit 3.924 Tage russischer Aggression.
Diese Diskrepanz in der Wahrnehmung zeigt einen grundlegenden Unterschied zwischen den ukrainischen und westlichen Gesellschaften. Woher kommt dieser Unterschied? Zwei Gedanken kommen mir dazu in den Sinn: Zum einen scheinen wir in einem Nebel aus Teilwahrheiten gefangen, der es uns erschwert, die volle Realität zu sehen. Zum anderen zeigt sich hier die beunruhigende Effizienz der russischen Propaganda, die Narrative geschickt manipuliert und den öffentlichen Fokus lenkt.
Bequeme Mythen hinterfragen
Der 1.000. Tag ist eine Gelegenheit, die „bequemen Mythen“, die wir in Österreich und im Westen pflegen, kritisch zu hinterfragen. Ein besonders verbreiteter Mythos ist die Vorstellung, dass all das „nur Putins Schuld“ sei.
Die Illusion von Putins Schuld
Diese Erzählung reduziert die Komplexität des russischen Staatsapparats auf eine einzige Person und ignoriert die systemische Dimension der russischen Aggression. Viele Menschen scheinen zu hoffen, dass der Krieg endet, sobald Putin nicht mehr an der Macht ist. Doch das ist ein gefährlicher Irrglaube.
Wie der österreichische Experte für Desinformation Dietmar Pichler betont, wäre die russische Propaganda ohne die Unterstützung der breiten russischen Bevölkerung nicht so effektiv. Der Fokus auf Putin allein blendet die Mittäter innerhalb der russischen Eliten und die aktive Rolle der russischen Gesellschaft aus.
Ein autoritäres System wie das russische ist ein komplexes Gebilde, vergleichbar mit einem Lego-Baukasten: Jedes Teil – sei es das Verteidigungs-, Außen- oder Bildungsministerium – hat eine spezifische Funktion, aber alle arbeiten zusammen auf ein übergeordnetes Ziel hin: Unterdrückung, Zerstörung und die Schwächung demokratischer Werte.
Die Gefahr eines verzerrten Narratives
Die Vorstellung, dass alles an Putin hängt, führt nicht nur zu einer Verharmlosung der systemischen Natur des russischen Staatsapparats, sondern auch zu einer Ignoranz gegenüber den langfristigen Konsequenzen. Solange die Machtstrukturen und das autoritäre System Russlands unangetastet bleiben, wird die Bedrohung für demokratische Staaten bestehen.
Demokratie: Unsere Sicherheit
Ich verstehe, dass viele Menschen in Österreich und anderswo einfach Frieden und Ruhe suchen. Doch aus meiner Erfahrung weiß ich: Demokratie ist unsere Sicherheit.
Als ich kürzlich die befreiten Gebiete von Cherson besuchte, sprach ich mit vielen mutigen Menschen. Auf die Frage, was die russische Besatzung für sie bedeutete, erhielt ich oft dieselbe Antwort: Angst. Angst vor Willkür, Repression und Gewalt.
In Demokratien basiert unsere Sicherheit auf unseren Werten: Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Freiheit. Diese Werte sind in unseren Gesetzen verankert und schützen uns.
In autoritären Systemen wie Russland jedoch sind solche Werte irrelevant. Dort arbeiten alle Institutionen – von Schulen und Medien bis hin zu Kindergärten – darauf hin, eine parallele Realität zu schaffen, in der Krieg als gerechtfertigt dargestellt wird und Unterdrückung zur Norm wird.
Ideologische Kriege und Werte
Wir stehen nicht nur in einem militärischen Konflikt, sondern auch in einem ideologischen Krieg. Die Zusammenarbeit zwischen autoritären Regimen wie Russland, Nordkorea, Iran und die scheinbare Unterstützung durch China zeigt, wie gefährlich dieser ideologische Kampf ist. In diesen Systemen wird die Bevölkerung darauf konditioniert, westliche Werte wie Menschenwürde oder Freiheit zu verachten und stattdessen ein System der Kontrolle und Unterdrückung zu akzeptieren.
Unsere Werte neu entdecken
Das führt zu einer zentralen Frage: Haben wir in den westlichen Demokratien ein ausreichendes Bewusstsein für unsere eigenen Werte? In einem ideologischen Krieg ist es entscheidend, zu verstehen, wofür wir kämpfen. Ohne dieses Bewusstsein riskieren wir, unsere Stärke und Einheit zu verlieren.
Ich habe das Gefühl, dass wir oft so sehr in unserem Alltag gefangen sind, dass wir kaum Zeit finden, innezuhalten und zu reflektieren: Wer sind wir? Was sind unsere Werte? Demokratie erscheint uns oft als selbstverständlich, als etwas, das immer da sein wird. Doch diese Selbstverständlichkeit birgt Risiken. Sie verleitet uns dazu, in schwierigen Zeiten nach einfachen Lösungen zu suchen, ohne die Komplexität der Situation zu erfassen. Dabei vergessen wir, dass einfache Lösungen oft einen hohen Preis haben können.
Hier liegt meine größte Sorge: Dass wir erst bereuen, wenn wir etwas verloren haben. Doch es muss nicht so weit kommen. Ich hoffe, dass jede / jeder, der oder die diesen Artikel liest, ins Nachdenken kommt und diese Themen in den eigenen Kreisen anspricht. Nur durch Dialog und Bewusstwerdung können wir die Bedeutung unserer Werte wieder ins Zentrum rücken und unsere Demokratien schützen.
Der 1.000. Tag der großangelegten russischen Invasion ist mehr als nur ein symbolisches Datum – er ist ein Prüfstein für die Ukraine, für Europa und für die gesamte freie Welt. Er ruft uns dazu auf, innezuhalten und uns die entscheidenden Fragen zu stellen: Was bedeutet Demokratie für uns? Welche Werte sind es wert, verteidigt zu werden? Und wie können wir, jede und jeder Einzelne von uns, aktiv zu diesem Schutz beitragen?
Krieg der Narrative, Ideologien und Identitäten
Dieser Krieg ist nicht nur ein Konflikt der Waffen, sondern auch ein Krieg der Narrative, der Ideologien und der Identitäten. In autoritären Systemen wie Russland wird die Bevölkerung dazu erzogen, Freiheit und Menschenwürde zu verachten. Propaganda ersetzt Fakten, und die Realität wird verdreht, um Macht und Kontrolle zu sichern. Doch was passiert bei uns im Westen? Haben wir uns vielleicht zu sehr daran gewöhnt, Demokratie als selbstverständlich anzusehen?
Die Wahrheit ist unbequem: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist eine Errungenschaft, die jeden Tag aufs Neue verteidigt und mit Leben gefüllt werden muss. Wie ein zartes Pflänzchen braucht sie Pflege, Achtsamkeit und den Einsatz aller, die von ihrer Stärke profitieren.
Man sagt, wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf. Es liegt an uns, diese Bequemlichkeit zu durchbrechen, Mythen zu hinterfragen und Verantwortung zu übernehmen – als Einzelne und als Gemeinschaft. Wir dürfen nicht darauf warten, dass andere handeln, oder hoffen, dass sich die Dinge von selbst lösen. Denn das tun sie nicht. Die Reflexion über unsere Werte, die Bereitschaft, uns den Herausforderungen zu stellen, und der Mut, für Freiheit und Würde einzutreten, sind die stärksten Werkzeuge, die wir haben.
Die Ukraine kämpft nicht nur für ihr Überleben, sondern auch für Ideale, die uns alle verbinden. Der 1.000. Tag erinnert uns daran, dass unsere Freiheit, unsere Sicherheit und unsere Demokratie untrennbar miteinander verbunden sind. Die Stärke einer freien Welt liegt in ihrer Einheit, ihrem Bewusstsein und ihrer Entschlossenheit, für das Richtige einzustehen.
Verantwortung und klare Standpunkte
Dieser Tag darf nicht nur ein Moment der Erinnerung sein. Er sollte uns inspirieren, in unserem Alltag Verantwortung zu übernehmen: durch Gespräche, durch Taten, durch einen klaren Standpunkt. Demokratie beginnt bei jedem von uns. Mögen diese 1.000 Tage ein Weckruf sein, um nicht nur die Ukraine, sondern auch die Werte, die uns alle tragen, zu verteidigen.
Gemeinsam können wir eine Zukunft schaffen, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind.
Anna Pattermann ist Vorsitzende von Unlimited Democracy. Das Beitragsbild zeigt sie bei der Präsentation des Filmes „Bucha“. Der Film erzählt anhand eines Helfers der Ukraine die Geschichte der Besetzung von Butscha, einer Vorstadt von Kyiv. Copyright Foto: Valeria Maltseva.