In manchen Punkten geht das Regierungsprogramm der ÖVP-FPÖ-Koalition sehr ins Detail. Dafür fehlen konkrete Anhaltspunkte, wie die im Wahlkampf so intensiv versprochene Entlastung nun realisiert werden soll. Eine Bewertung von Rainhard Kloucek
Auch wenn es 180 Seiten umfasst, lässt das Regierungsprogramm der neuen österreichischen Bundesregierung doch einige Fragen offen. Das betrifft insbesondere die von beiden Regierungsparteien im Wahlkampf so sehr betonte Notwendigkeit einer Entlastung der von einer der höchsten Steuerlasten geplagten Bürger. Dafür geht das Programm bei einigen Punkten tief ins Detail. Grundsätzlich soll alles effizienter, besser, unbürokratischer und freier werden. Der Staat soll schlanker werden. Bei manchen genannten Maßnahmen zu Entbürokratisierung und Deregulierung wundert man sich bei der Lektüre, wie ein Land bei der gegebenen Bürokratie überhaupt noch existieren kann. Manches ist auch widersprüchlich. Und ganz selbstverständlich finden sich in dem Programm Bekenntnisse, die in jeder politischen Sonntagsrede zum Standardrepertoire gehören. So oft wie „mehr Bürgernähe“ schon in den politischen Programmen gefordert wurde, dürfte, wenn man politische Versprechungen ernst nimmt, noch „mehr Bürgernähe“ gar nicht mehr möglich sein.
Selbstverständlichkeiten enthält das Programm natürlich auch, obwohl sie in einzelnen Punkten gar nicht in einer derartigen Erklärung über zukünftige Pläne der Regierung enthalten sein dürften, weil sie seit Jahren Gesetz in Österreich sind. Die Transparenzdatenbank ist so ein Beispiel. In ihr sollen alle Förderungen erfasst werden, um so einen Überblick zu bekommen, wer wo was auf welcher Ebene fördert. Mehrfachförderungen sollten damit der Vergangenheit angehören. Obwohl seit vielen Jahren Gesetz, weigern sich die Landesregierungen bisher beharrlich, diese Transparenzdatenbank zu befüllen. Also steht die Umsetzung des längst bestehenden Gesetzes wieder einmal im Regierungsprogramm. Neu ist, dass man eine Forderung der Neos dazu genommen hat. Die kleine Oppositionspartei will nämlich Sanktionen gegen die Landeshauptleute erlassen, wenn das Gesetz nicht umgesetzt wird, also die Länder sich weiter weigern, Daten zu liefern. Nun fordert die Regierung „Sanktionsmöglichkeiten bei Nichterfüllung der Verpflichtungen für die Transparenzdatenbank im Zuge des Finanzausgleichs“.
Offene Beschreibung der Problemlage
Verblüffend offen gewährt das Vorwort Einsicht in die gegebene Problemlage. Da wird eine der höchsten Steuer- und Abgabenquoten genauso angeprangert wie die Tatsache, dass der Staat trotz Rekordeinnahmen mit seinem Geld nicht auskommt und immer mehr Schulden macht. „Wir sind Weltmeister im Regulieren und im Einschränken von Freiheit und Selbstverantwortung“, heißt es wörtlich im Regierungsprogramm. Da wird die Schieflage des Sozialsystems genauso kritisiert, wie, dass man sich trotz Arbeit vom Lohn immer weniger leisten kann. Dem folgt dann der hohe Anspruch, Rahmenbedingungen zu schaffen, „damit jede und jeder Einzelne ein gelungenes Leben nach ihren bzw. seinen Vorstellungen erreichen kann.“ Und weiter: „Jede und jeder Einzelne soll Verantwortung für ihr bzw. sein Leben übernehmen. Wir müssen der staatlichen Bevormundung ein Ende setzen.“ Selbstverständlich aber soll jenen geholfen werden, die sich selber nicht helfen können.
Auffällig ist die mehrmalige Nennung der Neutralität als eines der Fundamente Österreichs. Insbesondere im Bereich einer notwendigen europäischen Sicherheitspolitik aber auch einer europäischen Außenpolitik wirft dieses Bekenntnis mehr Fragen auf, als es Lösungen auch nur anbieten könnte.
Bezeichnend für das politische System ist eine Formulierung in der Präambel, wo es um die Zusammenarbeit der beiden Regierungsparteien geht: „Die parlamentarischen Fraktionen der Koalitionsparteien und deren Klubobleute stellen ein gemeinsames Vorgehen in sämtlichen parlamentarischen Angelegenheiten, einschließlich der Abstimmungen, sicher“. Der Satz bedeutet nichts anderes als ein Ende des freien Mandates und eine Beschränkung des Parlamentarismus. Sollte in einer parlamentarischen Demokratie das Parlament als Vertretung der Bürger die Regierung kontrollieren, so wird hier vereinbart, dass die Mandatare der beiden Regierungsparteien den Vorgaben der Regierung bzw. der Parteispitzen zu gehorchen haben. Aber die direkte Demokratie soll gestärkt bzw. ausgebaut werden.
Differenziertes Schulsystem ausbauen
Im Bereich der Bildung will die Regierung das bewährte differenzierte Schulsystem erhalten und ausbauen. Kommen sollen eine Bildungspflicht – damit wird vor allem das Problem angesprochen, dass viele junge Menschen die Schulen verlassen, ohne wirklich lesen, schreiben und rechnen zu können – sowie verpflichtende Deutschkenntnisse vor Schuleintritt. Sichergestellt werden soll, „dass elementarpädagogische Einrichtungen nicht als Instrumente für die Förderung von gegengesellschaftlichen Modellen genützt werden.“ Verankern will man ein „Bekenntnis zur Verfassungs-, Werte- und Gesellschaftsordnung: Jedwede Arbeit in elementarpädagogischen Einrichtungen hat auf Basis dieser Werte zu erfolgen“.
Näher definiert wird dieses Wertegefüge nicht. Ein Hinweis könnte im Vorwort des Regierungsprogramms zu finden sein, wo von einem Fundament für die künftige Politik geschrieben wird: „Dieses Fundament setzt sich zusammen aus der österreichischen Verfassung, der immerwährenden Neutralität, den Grundprinzipien der Europäischen Union, aber auch den Grund- und Menschenrechten, den bürgerlichen Freiheiten sowie den Rechten von Minderheiten.“ Zusätzlich will man die Parteipolitik in die Schulen bringen. Schülerparlamente sollen gesetzlich verankert werden.
Interessant ist eine Bemerkung im Bereich Wissenschaft, wo es um die Österreichische Hochschülerschaft geht. „Die der Hochschülerschaft zur Verfügung gestellten Mittel sollen ausschließlich für Aufgaben der Beratung und Interessensvertretung von Studierenden verwendet werden können.“ Damit wird das sogenannte allgemeinpolitische Mandat praktisch beseitigt, eine Forderung, die bereits in den 70er Jahren von der Jes-Studenteninitiative in ähnlicher Form erhoben wurde. Die Hochschülerschaft wird, so wie alle Kammern als gesetzliche Interessensvertretung, aus Pflichtbeiträgen finanziert. Die Hochschülerschaft ist die Kammer der Studierenden, in der jeder Student, jede Studentin Zwangsmitglied werden und einen Beitrag zahlen muss. Eine Absicht zu einer gleichwertigen Begrenzung der Aufgaben der anderen Kammern findet sich im Regierungsprogramm aber nicht.
Bekenntnis zur Förderung der Familie
Wie von den Wählern der beiden Regierungsparteien wohl erwartet, findet sich im Programm ein klares Bekenntnis zur Familie und zur Förderung der Familie. Im Kapitel „Frauen“ steht ein Satz, der wohl alle Gender-Ideologen kollabieren lässt: „Die Besonderheit beider Geschlechter macht den Mehrwert für die Gesellschaft sichtbar. Die Verschiedenheit von Mann und Frau zu kennen und anzuerkennen, ist ein Bestandteil menschlichen Lebens und damit unantastbar mit der Würde des Menschen verbunden.“
Wenig Mut bei der Reform der Sozialversicherungen
Weniger mutig war man bei der notwendigen Reform der Sozialversicherung. Hier soll es zu einer Reduktion auf fünf Sozialversicherungsträger kommen, wobei die länderspezifischen Bedürfnisse berücksichtigt werden sollen. Das darf als Zugeständnisse an die vielfältigen Interessen der Bundesländer gesehen werden. Die Leistungen will man angleichen. Der Reformdruck wird aber durch diese geplanten Veränderungen nicht groß genug sein. Reformdruck entsteht immer nur dort, wo Wettbewerb herrscht. Den könnte man im Bereich der Sozialversicherung nur über eine Wende von der Pflichtversicherung zur Versicherungspflicht erreichen. Damit müssten die einzelnen Träger um Kunden werben, entsprechende Angebote schnüren und effizient arbeiten. Ein derartiger Wettbewerbsdruck würde andererseits die politische Einflussnahme reduzieren.
Offene Fragen in der Europapolitik
Viele offene Fragen bleiben im Bereich der Europapolitik. Wie schon im Wahlkampf wird auch im Regierungsprogramm der Begriff der Subsidiarität strapaziert. „Wir wirken auf europäischer Ebene darauf hin, dass sich die EU im Sinne der Subsidiarität auf die wesentlichen, für gemeinsame Lösungen geeigneten Themen fokussiert.“ Betont wird die Wertegemeinschaft Europa. Was diese für gemeinsame Lösungen geeigneten Themen sein könnten, wird nicht näher ausgeführt. Einen Anhaltspunkt liefert die Absichtserklärung zum Thema Schutz der EU-Außengrenzen. Hier tritt man zwar für eine verstärkte Zusammenarbeit der EU-Staaten ein, blendet aber einen europäischen Grenzschutz aus. Auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik fehlt eine europäische Perspektive. Mehrfach wird die Neutralität als Leitlinie genannt, womit aber nur eine Ausrede gegen neue Initiativen aufgebaut wird. Positiv anzumerken ist das Bekenntnis zu einer Stärkung der Zusammenarbeit mit den mitteleuropäischen Nachbarstaaten. Die im Programm geforderte Prüfung einer Möglichkeit einer Subsidiaritätsprüfung bei neuen Regulierungen gibt es übrigens bereits in den EU-Verträgen.
Drehscheibe Österreich zwischen Ost und West?
Eher an die Zeiten des Kalten Krieges denn an eine echte europäische Perspektive erinnert eine Formulierung, wonach Österreich „als historische Drehscheibe zwischen Ost und West ein aktiver Ort des Dialogs sein“ soll, in dem eine „Entspannungspolitik zwischen dem Westen und Russland“ vorangetrieben wird. In Verkennung der Realität wird von neu entstandenen Spannungen – „insbesondere durch den Ukraine-Konflikt“ – gesprochen, wo man sich für eine Entschärfung des Konflikts und einen Abbau der Sanktionen einsetzen will. Hier wird offensichtlich die Tatsache verdrängt, dass Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, der mit seinen mittlerweile deutlich mehr als 10.000 Toten nicht als Spannung verharmlost werden kann. Ein Abbau der Maßnahmen (Sanktionen) gegen Kriegstreiber im russischen System wäre wohl die Einladung an Moskau, die Aggression gegen den europäischen Nachbarn Ukraine wieder zu eskalieren.
Nichts Konkretes zur Entlastung
Sehr zurückhaltend ist das Programm bei den notwendigen Entlastungen der Bürger. Den Begriff Steuersenkung sucht man vergeblich. War im Wahlkampf noch von einer Senkung der Steuer- und Abgabenquote auf unter 40 Prozent die Rede, so will man diese Belastung nur mehr in Richtung 40 Prozent senken. Zur angekündigten Beseitigung der kalten Progression – entsprechende Anträge wurden im Nationalrat bereits in der vorigen Legislaturperiode von der Opposition eingebracht – liest man nur mehr: „Prüfung der automatischen Anpassung der Grenzbeträge für die Progressionsstufen auf Basis der Inflation des Vorjahres im Rahmen einer Steuerstrukturreform.“
Sehr konkret dagegen wird man, wenn es um die Besteuerung von Internetplattformen wie facebook oder Google geht. Sie will man zur „Steuerpflicht in Österreich zwingen“. Erste gesetzte Schritte, wie die Reduktion der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für Geringverdiener, lassen zwar einen gewissen Populismus in Richtung des vielzitierten kleinen Mannes erkennen, öffnen aber noch keine Perspektive zur Rücknahme der massiven Belastung des Mittelstandes. Damit ist zu befürchten, dass das im Vorwort formulierte Bekenntnis zum Ende der staatlichen Bevormundung ein schönes Bekenntnis bleibt.
Der Artikel erschien ursprünglich in der Ausgabe 1/2018 der Zeitschrift „Paneuropa“
Fotos: BKA / Dragan Tatic, BKA / Andy Wenzel