Ein neuer Ausgleich

Ein Gesetz zum Schutz der Familie soll angeblich gegen die europäischen Werte verstoßen. Viel gefährlicher für die europäische Einigung sind allerdings einige andere europapolitische Vorstellungen aus Budapest. Ein Kommentar von Rainhard Kloucek.

Ungarn steht wieder einmal am Pranger. Wegen eines neuen Gesetzes, das die Familie schützen soll, und beispielsweise die Sexualerziehung der Kinder klar der Verantwortung der Eltern zuschreibt. Das Gesetz sei diskriminierend und verletze die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, sagen seine Gegner. Beweis dafür haben sie bisher keinen erbracht. Nun hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, das wohl klären wird, ob und wie welche europäischen Normen verletzt werden (oder eben nicht). Die Geschichte mit der Diskriminierung jedenfalls kann nicht ganz stimmen. Die Pride-Parade in Budapest ging ohne weitere Probleme über die Straßen, und gleichgeschlechtliche Paare können sich in Ungarn verpartnern.

Warum gerade ein Gesetz zum Schutz der Familie ein Verstoß gegen europäische Werte sein soll, bleibt schleierhaft. Schließlich ist die Familie vor dem Staat (sowohl zeitlich-historisch – es gab schon Familien bevor es den Staat gab –, als auch organisatorisch – die Familie ist eben keine Einrichtung des Nationalstaates) Keimzelle der Gesellschaft.

Der Konflikt ist auch keiner zwischen West- und Mitteleuropa, auch wenn er nun von manchen zur neuen Spaltung in Ost und West hochstilisiert wird. Betrieben wird dieses Narrativ von Ideologen, die sich damit als Opfer einer Unterdrückung Osteuropas durch Westeuropa darstellen, um darauf die Geschichte aufzubauen, dass sie die Einzigen (und auch Letzten) seien, die die wahren Werte Europas verteidigen. Es ist vielmehr ein Konflikt zwischen Ideologien, die letztlich den Rechtsstaat aushöhlen und ihm ihre ideologische Sicht aufzwingen wollen. Das Wesen des liberalen Rechtsstaates ist eben nicht die staatliche Durchsetzung einer bestimmten Glücks- und Wohlfahrtsvorstellung. Aufgabe des liberalen Rechtsstaates ist es, Recht und Freiheit zu garantieren! So wie es in Westeuropa viele Menschen gibt, die für die (traditionelle) Familie eintreten und dieses Ideal auch leben, so gibt es auch in Mittel- und Osteuropa Vertreter der LGBTIQA-Bewegung.

Wobei es völlig absurd ist, wenn die gesamte Debatte um Europa, um europäische Werte, anhand sexueller Vorlieben geführt wird. Das ist ein gigantischer zivilisatorischer Rückschritt. Der Mensch hat sich durch seinen Geist über die Triebhaftigkeit des Tieres erhoben (bzw. wurde so geschaffen). Aber vielleicht glauben einige wirklich, dass wir so die Gefahr aus Peking und Moskau bannen, weil sich die Politiker dort eventuell totlachen über diese Absurdität.

Mit einem Gesetz zum Schutz der Familie wird also Viktor Orban sicherlich nicht zur Gefahr für Europa. Und je mehr er wegen dieser Politik von Ursula von der Leyen, Mark Rutte oder Karoline Edtstadler kritisiert wird, um so sicherer ist seine Wiederwahl bei den ungarischen Wahlen im nächsten Jahr.

Trotzdem wäre es falsch, Viktor Orban und seine Parteigänger generell frei zu sprechen. Denn in vielen Punkten verfolgt die ungarische Regierung eine Politik, die enorme Sprengkraft für die europäische Einigung birgt. Der 7-Punkte-Plan, der Anfang Juli in mehreren Tageszeitungen in verschiedenen EU-Ländern (in Österreich in „Die Presse“) inseriert wurde, ist so ein Beispiel. Eine Reduktion der europäischen Integration auf eine reine zwischenstaatliche Zusammenarbeit, bei der alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert werden würde, würde wohl in Moskau und Peking begrüßt werden. Europa – und damit auch jene Staaten, die diesen Rückschritt in den Nationalismus propagieren – wäre aber der Verlierer. Ohne Direktwahl des Europäischen Parlamentes wäre Otto von Habsburg wohl nie Mitglied dieser europäischen Volksvertretung geworden, aus der heraus er übrigens auch sehr viel gerade für Ungarn erreicht hat.

Der 7-Punkte-Plan von Viktor Orban

Der 7-Punkte-Plan von Viktor Orban

Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, was Viktor Orban wirklich will. Nun, dass ein Politiker gerne im Rampenlicht steht und ein begehrter Interviewpartner sein möchte, ist logisch. Genauso übrigens, dass er nach Macht strebt. Erst in jüngster Zeit gab es von Viktor Orban einige Aussagen, die sein wirkliches Ziel klarer erscheinen lassen. Ein ungarischer Diplomat, der in Wien Dienst tat, hat einmal in einem persönlichen Gespräch angemerkt, dass man, um Orban und seine Politik verstehen zu können, in die ungarischen Geschichte blicken müsse. Und zwar nicht in die des 20. Jahrhunderts, sondern in die des 19. Jahrhunderts. Damit sind wir bei der nationalen ungarischen Revolution 1848 und dem ungarischen Ausgleich von 1867.

In einem ausführlichen Interview mit dem slowakischen Portal Postoj.sk, das auch in Magyar Nemzet auf Deutsch nachzulesen ist interpretiert Orban die Europäische Union so: „Bis jetzt drehte sich die Europäische Union um eine deutsch-französische Achse, in einem bipolaren Modus der Zusammenarbeit. Was wir jetzt anstreben, ist ein Europa, das bis 2030 einen dritten Pol haben wird: Mitteleuropa, also die V4.“ (V4 steht für die vier Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei, Anmerkung.) Abgesehen davon, dass hier der Begriff Mitteleuropa missbraucht wird (Mitteleuropa ist nämlich nicht ein Konstrukt des Nationalstaates, Mitteleuropa wurde durch den Nationalstaat zerstört), zeigt die Aussage (die übrigens auch in den Aussendungen der ungarischen Botschaft am 19. Mai 2021 verbreitet wurde), dass Orbans Denken offenbar in einem alten hegemonialen Politikstil verankert ist. In diesem Verständnis beansprucht er für sich einen Pfeiler der hegemonialen Macht.

Es ist also der Anspruch eines neuen ungarischen Ausgleichs, der hier propagiert wird. Im konkreten Fall ist nicht mehr Wien das Problem, sondern Brüssel. So wird in dem schon zitierten Inserat Brüssel beschuldigt, ohne Ermächtigung einen Superstaat zu errichten. „Wir sagen Nein zu einem europäischen Imperium“, lässt Orban formulieren. Dass „Brüssel“ nur dann handeln kann, wenn es die Mitgliedsstaaten erlauben, wird dabei geflissentlich verschwiegen.

Es ist also nicht ein Gesetz zum Schutz der Familien, das Europas Identität zerstört, sondern das Streben nach einem neuen ungarischen Ausgleich, das die europäische Handlungsfähigkeit einschränkt und damit außereuropäischen Mächten dient. Beschämend an der europäischen Politik ist, dass diese Bedrohung von keinem Politiker thematisiert wird.

c Beitragsbild: EU 2021 Etienne Ansotte