Ein Veto ist undemokratisch

Mit 64.341 Vorzugsstimmen wurde Claudia Gamon auf der Liste der NEOS ins Europäische Parlament gewählt. Im Interview mit „Paneuropa“ spricht sie über eine europäische Staatsbürgerschaft und die Vereinigten Staaten von Europa.

Paneuropa: Wir dürfen ganz herzlich zum hervorragenden Vorzugsstimmenergebnis gratulieren. Das Europäische Parlament ist auf fünf Jahre gewählt, es wird auch nicht wie nationale Parlamente gelegentlich frühzeitig aufgelöst. Sie vertreten etwas mehr als 64.000 Menschen, die Sie direkt gewählt haben. Was haben Sie für konkrete Vorstellungen, Ziele, Schwerpunkte für diese nächsten fünf Jahre?

Claudia Gamon: Die Schwerpunkte aus NEOS-Sicht sind, dass wir an diesen großen Reformvorhaben arbeiten werden, die wir auch im Wahlkampf kommuniziert haben. Das ist die absolute Priorität. Und für mich persönlich natürlich auch, dass die Europäische Union im Bereich Innovation und Wissenschaft einiges weiter tut, und in der Technologieregulierung federführend wird in der Welt.

Paneuropa: Darf ich einmal ganz grundsätzlich fragen: Was bedeutet für Sie Europa, die Europäische Einigung?

Wir sind dann Bürger der Europäischen Union

Gamon: Die Europäische Einigung bedeutet Freiheit für alle Bürger-
innen und Bürger der Union, den ganzen Kontinent nutzen zu können und Bürgerinnen und Bürger Europas zu sein, und nicht nur eines einzelnen Nationalstaates.

Paneuropa: Es gab im Wahlkampf einen Slogan den NEOS sehr stark geprägt haben, den auch Sie immer wieder gebracht haben, der hieß: „Vereinigte Staaten von Europa – Wir machen das.“ Was bedeuten die Vereinigten Staaten von Europa?

Gamon: Vereinigte Staaten von Europa wäre ein Modell für die Zukunft, das es Europa ermöglicht, die europäische Art zu Leben für die Zukunft zu erhalten, weil die Europäische Union stärker unter Druck gerät durch die Machtverhältnisse in der Welt, durch wirtschaftlich starke, aber undemokratische bis diktatorische Regime auf der Welt. Dem muss Europa etwas entgegensetzen, da sind die Vereinigten Staaten von Europa ein Weg dazu.

Paneuropa: Aber was heißt das konkret? Was ist dann Europa? Ist das ein Staat, die Europäische Union?

das Prinzip der Subsidiarität gilt

Gamon: Europa ist dann ein föderaler Bundesstaat in dem natürlich die einzelnen Mitgliedsstaaten ihre nationale Identität weiterhin behalten, aber es wird auf einer Ebene darüber etwas Neues geschaffen. Das Prinzip der Subsidiarität gilt grundsätzlich weiterhin. Das ist ein politisches Grundprinzip. Aber es bedeutet, dass man in den großen Fragen wie Verteidigung, aber natürlich auch der Demokratie, mehr europäische Kompetenzen haben wird. Dieses Bundesstaatsprinzip wäre die Möglichkeit. Also vom Staatenbund zum Bundesstaat, sagen wir es so.

Paneuropa: Die großen Fragen, Außen- und Sicherheitspolitik, wäre das dann europäische Kompetenz?

Gamon: Ja.

Paneuropa: Das heißt, es gibt dann einen europäischen Außenminister oder Außenministerin und …

Gamon: … Ja, und einen europäischen Finanzminister usw. usf. …

Paneuropa: … Der oder die dann aber nicht nur 28 Mitgliedsländer koordiniert, oder doch?

Eigenmittel für das EU-Budget

Gamon: Sowohl als auch. Selbstverständlich halten wir es für notwendig, nicht nur in den Vereinigten Staaten von Europa, sondern auch jetzt schon, dass die Europäische Union mehr Möglichkeiten bekommt über ihr Budget selber zu bestimmen, durch das Einheben echter Eigenmittel, sei es über eine europäische Körperschaftssteuer oder über eine europäische CO2-Steuer, das ist dann ein Detail. Aber grundsätzlich bekennen wir uns sehr stark zu eigenen europäischen Budgetmitteln.

Das Interview mit der Europaparlamentarierin Claudia Gamon führte Rainhard Kloucek telefonisch.

Paneuropa: Das würde aber wahrscheinlich bei vielen Leuten gar nicht so gut ankommen, wenn sie dann zusätzliche Steuern zahlen müssen?

Gamon: Das muss ja nicht zusätzlich sein. Ganz im Gegenteil, es geht nur darum, dass die Europäische Union selber die Möglichkeit hat in ihrem Budget flexibler zu sein. Und um diesen Betrag sollen dann auch die Mitgliedsbeiträge der Mitgliedsstaaten verringert werden.

Paneuropa: Vor einigen Wochen hat die Europäische Kommission ihr Erweiterungspapier vorgestellt. Darin wird unter anderem vorgeschlagen, Beitrittsverhandlungen mit  Mazedonien – Nordmazedonien – und Albanien aufzunehmen. Wie wichtig ist die Erweiterung für Sie bzw. für die Politik der NEOS?

Gamon: Das ist sicher eine wichtige Perspektive für die Region. Aber die Europäische Union hat bei den letzten großen Erweiterungen gelernt, dass es keinen Wert hat, wenn Länder beitreten, die noch nicht bereit dazu sind. Solange die Kriterien nicht erfüllt sind, ist es für uns keine Option. Aber es ist wichtig, diesen Prozess zu starten, weil er sehr viel für die Reformvorhaben bewegen kann. Das sollte auch das Ziel der Union sein.

Paneuropa: Beginn von Erweiterungsverhandlungen heißt ja nicht, dass sie heute beitreten. Sollte man jetzt mit den Beitrittsverhandlungen beginnen, so wie es die Kommission empfohlen hat?

Mehr Vorsicht bei der Erweiterung

Gamon: Ja, das kann man schon machen, aber wir plädieren hier einfach für mehr Vorsicht, als es in der Vergangenheit der Fall war.

Paneuropa: Gerade was die Perspektive auf EU-Mitgliedschaft betrifft, so ist das eine große Motivation für diese Länder entsprechende Reformen zu machen. Tut hier die Kommission oder die Europäische Union insgesamt zu wenig, um den Ländern klar zu sagen: Wenn ihr wirklich Mitglied werden wollt, dann muss da auch etwas weitergehen bei diesen Reformen.

Gamon: Ja, ich denke schon. Das muss man auch klarer sagen.

Paneuropa: Es gab im Wahlkampf von Ihnen eine Aussage, die sehr pro-ukrainisch gewesen ist. Das wurde auch in der Ukraine von einigen Medien zitiert. Sollte die Ukraine eine Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft bekommen?

Andere Modelle als die Vollmitgliedschaft

Gamon: Im Moment sehe ich das noch nicht. Aber das ist genauso wie die Position von NEOS zum West-Balkan. Es muss auch die Möglichkeit geben, dass eine europäische Perspektive nicht nur auf einen Beitritt reduziert wird. Es ist ja nicht garantiert, dass diese Länder dann wirklich beitreten werden. Da bin ich der Meinung, dass man ein bisschen mehr Fantasie braucht, dass eine europäische Perspektive auch abseits einer Vollmitgliedschaft möglich sein muss.

Paneuropa: Was könnte das sein?

Gamon: Darüber muss man reden. Es gibt genügend Leute, die sich lange genug mit den Erweiterungsprozessen beschäftigt haben, die gute Modelle vorgestellt haben.

Paneuropa: Sehr oft wird über eine innere Reform der EU diskutiert. Der französische Präsident Macron kam mit Vorschlägen, ein eigenes Parlament für die Eurozone, ein eigener Finanzminister für die Eurozone, er bezieht sich vor allem auf die Eurozone. Sind diese Vorschläge sinnvoll, oder würde so etwas nicht dazu beitragen, dass es innerhalb der Europäischen Union dann noch einmal zu einer Teilung kommt, zu verschiedenen Geschwindigkeiten?

Lage in Italien ist problematisch

Gamon: Beim Euro ist die Situation problematisch, wenn man sich die Lage in Italien anschaut. Da hätte man bei früheren Entscheidungen genauer darauf schauen sollen. Das sollte in Zukunft strenger gehandhabt werden.

Paneuropa: Also die Einhaltung der Stabilitätskriterien?

Die Europäische Einigung bedeutet Freiheit für alle Bürgerinnen und Bürger der Union, den ganzen Kontinent nutzen zu können und Bürgerinnen und Bürger Europas zu sein, und nicht nur eines einzelnen Nationalstaates.

Gamon: Ja.

Paneuropa: Das hieße aber, dass man auch bereit ist, dann entsprechende Sanktionen zu verhängen?

Kriterien müssen eingehalten werden

Gamon: Ja, klarerweise. Entweder man bekennt sich dazu, dass diese Kriterien notwendig sind oder nicht. Sonst müssen wir darüber reden, ob die Prinzipien überhaupt sinnvoll sind. Aber, da sich die Staaten darauf geeinigt haben, dass das die Kriterien sind, sind diese auch einzuhalten.

Paneuropa: Das Problem dabei ist, dass letztlich die Mitgliedsstaaten darüber entscheiden, ob Sanktionen kommen oder nicht. Und die Mitgliedsstaaten haben ja außerhalb der Verträge unter anderem beschlossen, die No-Bailout-Klausel zu umgehen. Haben in der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten zu viel Macht?

Gamon: Das ist ja etwas, was wir grundsätzlich kritisiert haben. Es geht aber nicht um zu viel Macht. Es geht darum, wie man sie einsetzt. Wir haben ein grundsätzliches Problem mit dem Einstimmigkeitsprinzip. Ein Veto ist  etwas undemokratisches und daher abzulehnen.

Paneuropa: Also weg vom Einstimmigkeitsprinzip?

Weg vom Einstimmigkeitsprinzip

Gamon: Auf jeden Fall. Das ist etwas ganz, ganz wichtiges.

Paneuropa: Zirka 80 Prozent der Entscheidungen werden bereits mit Mehrheitsbeschlüssen gefällt. Aber bei einer Vertragsänderung gilt die Einstimmigkeit. Wären Sie auch dafür, bei der Vertragsänderung die Einstimmigkeit aufzulassen?

Gamon: Nein, bei einer Vertragsänderung selber wäre es sinnvoll, das einstimmig zu beschließen. Es sollen ja alle dabei sein. Aber wir merken im alltäglichen Betrieb, dass noch viele Fälle übrig sind, bei denen das Einstimmigkeitsprinzip sehr relevant ist.

Paneuropa: Der Außengrenzschutz ist so ein Beispiel, wo sich die Mitgliedsstaaten die Kompetenz behalten haben und das nicht europäisieren wollten.

Gamon: Ja.

Paneuropa: Da wären Sie dafür, dass man die Einstimmigkeit aufgibt?

Gamon: Auf jeden Fall.

Paneuropa: Auch bei außenpolitischen Themen?

Gamon: Ja, natürlich.

Paneuropa: Im Wahlkampf in Österreich wurde unter anderem vom damaligen Bundeskanzler angesprochen, dass es eine Vertragsänderung brauche. Brauchen wir wirklich eine Vertragsänderung?

Verfassungskonvent für Vertragsänderung

Gamon: Ja, aber keine halbherzige. Beim Vorschlag der ÖVP waren ja Kleinigkeiten dabei, die teilweise gar keine Vertragsänderung benötigt hätten. Was wir uns vorstellen. ist ein echter Verfassungskonvent, wo man wieder darüber sprechen kann, wie die Europäische Union der Zukunft ausschauen kann. Winzige Vertragsänderungen wären uns zu wenig. Wenn man das Thema Vertragsänderung aufmacht, dann sollte man die Gelegenheit nutzen, um eine große Reform anzustreben.

Paneuropa: Beim Wahlkampfauftakt der Neos wurde ein europäischer Reisepass verteilt. Eine sehr interessante Idee. Darf man daraus schließen, dass es so etwas wie einen tatsächlich europäischen Reisepass geben sollte, wo wir Bürger Europas und nicht nur Bürger eines Nationalstaates sind, der bei der Europäischen Union ist?

Gamon: Ja, das ist ja auch Teil unseres Konzeptes der Vereinigten Staaten von Europa: eine europäische Staatsbürgerschaft, mit der auch eine fünfte Grundfreiheit verbunden ist, die demokratische Freiheit, dort wählen zu können, wo man seinen Hauptwohnsitz und seinen Lebensmittelpunkt hat.

Paneuropa: Bei der Europawahl oder generell?

Gamon: Generell.

Paneuropa: Also wenn ich in die Slowakei umziehe, dann wähle ich in der Slowakei auch das Parlament?

Gamon: Ja, genau.

Paneuropa: Weil ich nicht mehr Bürger Österreichs, der Slowakei oder sonst eines Landes bin, sondern Bürger der Europäischen Union?

Gamon: So ist es. Aber man behält natürlich die österreichische Staatsbürgerschaft. Das was dann die österreichische Staatsbürgerschaft ausmacht ist, dass man sich immer entscheiden kann wieder in Österreich selbst zu wohnen. Aber es soll über die europäische Staatsbürgerschaft möglich sein, dass man dort, wo man seinen Lebensmittelpunkt hat, auch wählen kann.

Paneuropa: Die vier Grundfreiheiten wurden schon angesprochen. Die sind ja so etwas wie eine Art Verfassung der Europäischen Union, seit 1957, seit den Römischen Verträgen. Jetzt gibt es allerdings eine ganze Reihe von Maßnahmen, die diese Grundfreiheiten einschränken. Ich denke ganz konkret an die Entsenderichtlinie, die ja die Bewegungsfreiheit bzw. die Erwerbsfreiheit beschränkt; oder Maßnahmen die Mindestlöhne bringen. Das sind ja alles sehr planwirtschaftliche Ansätze die immer wieder kommen. Ist das das, was man sich unter Europa vorstellen sollte?

Gamon: Es gibt schon genügend Dinge bei denen es im Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping wichtig ist, darauf zu achten, dass die Regeln eingehalten werden. Man kann an der Entsenderichtlinie sicher auch das eine oder andere kritisieren, aber da gebe ich ganz offen zu, das ist nicht mein Spezialgebiet. Da wäre es interessanter mit Sozialrechtlern darüber zu sprechen.

Paneuropa: Es gibt ja auch immer wieder Leute, die eine Sozialunion oder einen europäischen Mindestlohn fordern. Ist das sinnvoll?

Sozialunion ist ein Schlagwort

Gamon: Ich glaube, die Sozialunion ist ein Schlagwort. Es kommt darauf an, was darunter zu verstehen ist. Wir bekennen uns klar zum europäischen Mindeststandard, auch in sozialen Fragen. Aber ich glaube, das wird vor allem von der Sozialdemokratie oder von grünen Parteien oft als Schlagwort verwendet, wo nicht klar ist, was damit gemeint ist. Aber natürlich ist die Europäische Union für Bürger und Bürgerinnen auch ein Versprechen für ein besseres Leben. Ganz klar.

Paneuropa: Es gibt ja immer wieder den Vorwurf, die Europäische Union sei viel zu bürokratisch und viel zu zentralistisch. Ist die Europäische Union tatsächlich zu bürokratisch und zentralistisch? Und wenn ja, wo müsste man etwas ändern?

bürokratie in den Staaten und der EU

Gamon: Man kann darauf keine vollumfängliche Ja- oder Nein-Antwort geben. Es gibt Bereiche, da ist die Europäische Union vielleicht ein wenig zu bürokratisch und andere wo das nicht der Fall ist. Korruptionsbekämpfung ist ein ganz wichtiger Punkt. Das kann sich die Europäische Union nicht leisten. Deshalb ist es auch wichtig, gerade bei der Fördervergabe, strenge Richtlinien zu haben. Bei der Regionalförderung hat sich gezeigt, dass es oft bürokratische Hürden gibt. Da ist ja auch eine Reform in Planung, um das einfach zu gestalten. Ich glaube, das ist ein schwieriges Spannungsfeld in dem sich die Europäische Union hier bewegt. Aber ich halte es für falsch und für populistisch, hier eine entweder oder Position einzunehmen. Das wäre zu vereinfachend.

Paneuropa: Man könnte wohl den Mitgliedsstaaten auch vorwerfen, dass sie zu bürokratisch sind?

Gamon: Ja klar. Welcher Staat ist schon nicht bürokratisch? Da fallen mir wenige ein.

Paneuropa: Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch

c Fotos: Rainhard Kloucek, NEOS