In einer postfaktischen Welt wird die Wahrheit fragil. Für viele Menschen zählen nicht mehr die Fakten, sondern ihre Meinung, auf der sie auch dann beharren, wenn sie faktenwidrig ist. Eine Entwicklung, die auch die Demokratie bedroht. Von Anna Pattermann
Im Jahr 2014 verletzte Russland die Grenzen, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine. 2022 startete die Russische Föderation eine umfassende Invasion, bombardierte Städte, Flughäfen und kritische Infrastruktur und versuchte, so viel Territorium wie möglich zu besetzen – mit dem ultimativen Ziel, Kyjiw zu stürmen. Im Jahr 2020 begann die Covid-19-Pandemie, eine globale Gesundheitskrise, die Millionen von Menschenleben forderte.
Diese Ereignisse stellen eindeutige faktische Wahrheiten dar, wie sie von Hannah Arendt definiert werden:„[Sie] stehen immer in Bezug zu anderen Menschen: Sie betreffen Ereignisse und Umstände, an denen viele beteiligt sind; sie werden von Zeugen bestätigt und hängen von Zeugenaussagen ab; sie existieren nur insofern, als darüber gesprochen wird, selbst wenn sie sich im Bereich der Privatsphäre ereignen. Sie sind politischer Natur“ (Arendt 1967: 3001).
Trotz der Offensichtlichkeit dieser Ereignisse haben russische Desinformationskampagnen erfolgreich versucht, die Invasion als Verteidigungsmaßnahme oder als internen Konflikt umzudeuten, wodurch faktische Wahrheiten in subjektive Meinungen verwandelt wurden. Ähnliches war während der Covid-19-Pandemie zu beobachten, als autoritäre Staaten durch gezielte Manipulationen Gesellschaften verunsicherten und spalteten. Diese Verzerrung veranschaulicht Arendts Behauptung, dass „faktische Wahrheit nicht selbstevidenter ist als Meinung“, und unterstreicht die Zerbrechlichkeit der Wahrheit im politischen Raum.
Diese Entwicklung steht in direktem Zusammenhang mit dem Konzept der post-truth-Gesellschaft. Der Begriff „post-truth“ wurde 2016 vom Oxford Dictionary2 zum Wort des Jahres gekürt und beschreibt eine Realität, in der Emotionen und persönliche Überzeugungen einen höheren Stellenwert als objektive Fakten haben. Dies bedeutet nicht, dass Fakten nicht existieren, sondern dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend durch emotionale Narrative und politische Interessen überlagert werden. In dieser postfaktischen Welt wird Wahrheit nicht abgeschafft, sondern durch wiederholte Umdeutungen und Interpretationen so beschichtet, dass sie immer schwerer erkennbar wird.
Dieser Artikel untersucht, wie Arendts Aussage die wachsende Sorge über Desinformation in der westlichen Politik erklärt. Er konzentriert sich auf Mechanismen, die es ermöglichen, dass Meinung faktische Wahrheit überschattet. Dabei analysiert der Artikel, wie Desinformation Schwachstellen in Vertrauen, Identität und institutioneller Autorität ausnutzt, um die öffentliche Wahrnehmung zu manipulieren. Besonders relevant ist hierbei die Frage, wie Wahrheit nicht nur durch Lügen bedroht, sondern schrittweise überlagert wird – eine Art „Beschichtung“, die objektive Fakten in neue narrative Rahmen einbettet. Zudem wird untersucht, inwiefern Selbstwahrnehmung eine Rolle dabei spielt, ob Menschen bereit sind, diese Überlagerungen zu erkennen oder sich stattdessen unkritisch in vorgefertigte Deutungsmuster einfügen.
Politische Nützlichkeit der Meinung
Seit unserer Kindheit lernen wir im Spiel „Nenne das Gegenteil“, dass das Gegenteil von Wahrheit die Lüge ist. Umso überraschter war ich, als ich Hannah Arendts Gedanken zur Rolle der Meinung las.
Das Konzept der Meinung erweist sich für mich als besonders faszinierend und aufschlussreich. Arendt schreibt: „Daher war das Gegenteil von Wahrheit lediglich Meinung, die mit Illusion gleichgesetzt wurde, und es war diese Herabwürdigung der Meinung, die dem Konflikt seine politische Brisanz verlieh; denn die Meinung, nicht die Wahrheit, gehört zu den unverzichtbaren Voraussetzungen aller Macht3“.
Faktische Wahrheit und Wahrnehmung
Der zentrale Mechanismus liegt in der Wechselwirkung zwischen faktischer Wahrheit und Meinung – oder genauer gesagt in ihrer Umwandlung. Faktische Wahrheit ist objektiv; sie existiert unabhängig von uns und unseren Wahrnehmungen. Meinung hingegen ist subjektiv, geprägt von individuellen Perspektiven und Kontexten. Sobald eine faktische Wahrheit als Meinung umgedeutet wird, betritt sie eine andere Sphäre, in der klare Kategorien von „Schwarz und Weiß“ in unzählige Grautöne übergehen. In diesem subjektiven Raum gelten andere Regeln für den Umgang mit Meinungen als für Wahrheiten.

Über Jahre hinweg hat die russische Propaganda in Europa Desinformation über die Ukraine verbreitet. Beispielsweise auch zum Abschuss von MH17.
Ein besonders aufschlussreiches Beispiel ist der Abschuss von MH-17. Russland bestritt die Verantwortung für den Angriff und überflutete die öffentliche Debatte mit widersprüchlichen Theorien und Falschinformationen. Dadurch wurde die faktische Wahrheit – dass Russland für den Abschuss verantwortlich war – nicht mehr als objektiv gegeben wahrgenommen. Statt über angemessene Reaktionen und Konsequenzen zu diskutieren, wurde die Debatte darauf verschoben, ob Russland den Abschuss überhaupt zu verantworten hatte – und nicht mehr darauf, welche Maßnahmen daraus folgen sollten. Dasselbe geschah mit der Annexion der Krim, der Invasion im Donbas und später mit der Verbreitung von Covid-19-Verschwörungsfantasien.
Desinformationskampagnen nutzen die Verwundbarkeit von Meinungen gezielt aus, indem sie die Grenzen zwischen faktischen Wahrheiten und subjektiven Standpunkten verwischen. Durch die Umdeutung von Tatsachen in bloße Meinungen untergraben sie das öffentliche Vertrauen in eine objektive Realität.
Wie Arendt feststellt: „Faktische Wahrheit hat die Aufgabe, Meinungen zu informieren4“. Doch wenn die Wahrheit den Eigeninteressen, der Ideologie oder dem Wohlbefinden einer Gruppe widerspricht, kann sie durch kollektive Verleugnung ihre Autorität verlieren. Diese Verleugnung schafft eine gemeinsame Realität, die nicht auf Wahrheit, sondern auf gegenseitig akzeptierten Falschheiten basiert – und diese können die öffentliche Wahrnehmung dominieren (Michlin-Shapir 2021: 235). Infolgedessen beginnt die geteilte Realität, die für politische Stabilität essenziell ist, zu zerfallen.
Sobald dieser Wandel eintritt, leben wir in einer Welt, in der die Politik PR-Agenten engagiert, um Narrative zu erschaffen, Meinungen zu formen, Desinformationen zu verbreiten und den Konsum manipulierter Realitäten zu fördern6. Diese Transformation bedeutet den Übergang von Fakten zu Meinungen, von objektiven Realitäten zu subjektiven Wahrnehmungen – von einer Welt, die durch Wahrheit geprägt ist, zu einer, die von Emotionen und Manipulation geformt wird.
Die Strategie des organisierten Lügens
Hannah Arendt argumentiert, dass Fakten und Ereignisse als Ergebnisse menschlichen Handelns und Interaktion das Fundament des politischen Raums bilden und daher von Natur aus politisch sind7. Trotz der zentralen Bedeutung faktischer Wahrheit für die Politik besteht eine langanhaltende Spannung zwischen Wahrheit und politischen Interessen, da Wahrheit oft diesen Interessen im Weg steht. Während rationale Wahrheiten, wie jene in Wissenschaft oder Philosophie, meist durch Unwissenheit, Irrtum oder Illusion angefochten werden, stehen faktischen Wahrheiten zusätzlich einzigartige Gegner gegenüber: bewusste Falschdarstellungen und organisierte Lügen. Arendt betont, dass die gezielte Manipulation faktischer Wahrheiten – das, was sie als „organisiertes Lügen“ bezeichnet – zu einem markanten Merkmal der modernen Politik geworden ist, eine Waffe von solcher Macht, dass sie in historischen Debatten über das Verhältnis von Politik und Wahrheit kaum ernsthaft in Betracht gezogen wurde8.
Moderne totalitäre Regime des 20. Jahrhunderts veränderten die Natur des organisierten Lügens grundlegend, indem sie nicht nur einzelne Fakten, sondern ganze Kontexte angriffen und damit alternative Realitäten erschufen. Diese systematische Manipulation richtete sich nicht nur gegen Feinde, sondern täuschte ganze Bevölkerungen, einschließlich derjenigen, die sie verbreiteten, und verwischte so die Grenze zwischen Täuschung und Selbsttäuschung9. Arendt warnt vor der ultimativen Gefahr solcher Lügen: der Möglichkeit, faktische Wahrheit dauerhaft auszulöschen und sie durch konstruierte Narrative zu ersetzen, während historische Revisionismen an Macht gewinnen. Hätte Hitler beispielsweise den Krieg gewonnen, hätte er behaupten können, dass Belgien Deutschland angegriffen habe, und diese alternative Version der Geschichte hätte durch das Monopol auf Macht zur unangefochtenen „Realität“ werden können10.
Zusammenarbeit der totalitären Staaten
Diese Strategie zeigt sich in zahlreichen Fällen russischer Desinformation über den Krieg in der Ukraine – beginnend mit 2014, als Russland seine eigene Invasion leugnete, bis in die Gegenwart, in der weiterhin eine trügerische Fassade relativen Friedens aufrechterhalten wird. Autoritäre Staaten kooperieren miteinander ideologisch, wirtschaftlich und militärisch, indem sie Russland mit Waffen und Truppen in seinem Krieg gegen die Ukraine unter-
stützen, während sie zugleich subtile rhetorische Strategien nutzen, um die Realität zu verschleiern und die Dinge nicht beim Namen zu nennen – und so Schritt für Schritt eine alternative Realität zu konstruieren, in der Täter zu Opfern werden und Aggression als Selbstverteidigung erscheint.
Die Schichten der Wahrnehmung
Hannah Arendt betonte, dass faktische Wahrheit nicht selbst-evident sei, sondern von Zeugen, Berichterstattung und öffentlicher Anerkennung abhänge. In einer Zeit, in der Desinformation eine immer größere Rolle spielt, stellt sich jedoch die Frage, ob Wahrheit tatsächlich nur durch Lügen bedroht wird – oder ob sie vielmehr durch eine schrittweise Überlagerung von Narrativen und politischen Interessen transformiert wird. Moderne Medientheorien zeigen, dass Fakten nicht unabhängig von ihrer Darstellung existieren. Sie sind nicht einfach gegebene Realitäten, sondern durch soziale und politische Prozesse geformte Konstruktionen. Wahrheit bleibt oft bestehen, doch sie wird mit jeder Schicht der Interpretation und Vermittlung „beschichtet“, sodass sie in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend verzerrt erscheint.
Diese Überlagerung zeigt sich besonders deutlich in politischen Narrativen, die Fakten mit emotional aufgeladenen Meinungen verweben. Ein Beispiel hierfür ist die Brexit-Kampagne. Eine der zentralen Behauptungen war, dass Großbritannien wöchentlich 35011 Millionen Pfund an die EU zahle – eine Summe, die angeblich stattdessen in das nationale Gesundheitssystem fließen könnte. Obwohl diese Aussage nachweislich falsch war und mehrfach widerlegt wurde, entwickelte sie durch gezielte Wiederholung, Vereinfachung und emotionale Aufladung eine enorme politische Wirkung. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die ursprüngliche faktische Wahrheit – die tatsächlichen wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen eines EU-Austritts – zunehmend überlagert. Das Ergebnis war eine tief gespaltene Gesellschaft, in der Meinungen über den Brexit nicht mehr primär auf überprüfbaren Fakten basierten, sondern auf emotional geprägten Narrativen.
Hier zeigt sich ein zentrales Merkmal der modernen Krise der Wahrheit: Sie wird nicht einfach abgeschafft, sondern überlagert – so wie verschiedene Farbschichten auf einer Leinwand ein ursprüngliches Bild unsichtbar machen können.
Zerrüttetes Vertrauen, zersplitterte Realität
Die Fragilität der Wahrheit ist nicht nur eine Folge von Lügen, Transformation von Wahrheiten in Meinungen oder Wahrheitsüberschichtungen, sondern auch von einem allgemeinen Vertrauensverlust gegenüber Institutionen. Wie Bruno Latour12 betont, existieren Fakten nicht isoliert, sondern werden durch soziale und institutionelle Kontexte gestützt. Wenn dieses Vertrauen schwindet, verlieren selbst gut belegte Tatsachen an Glaubwürdigkeit. Dieser Niedergang der Wahrhaftigkeit ist eng unter Akademikerinnen und Akademikern mit einer breiteren Vertrauenskrise in traditionelle Institutionen verknüpft. Bennett und Livingston13 argumentieren, dass jahrzehntelange neoliberale Politiken, kombiniert mit manipulativen Praktiken in politischen Kampagnen und staatlicher Kommunikation, demokratische Institutionen systematisch entwertet, das öffentliche Vertrauen in autoritative Legitimität untergraben und die geteilte Realität destabilisiert haben, die für eine funktionierende Demokratie essenziell ist14.
Michlin-Shapir illustriert diese Entwicklungen anhand manipulativer Praktiken, etwa der Nutzung von Informationen zu finanziellen oder politischen Zwecken während des Vietnam- und Irakkriegs. Solche Strategien, so Michlin-Shapir, „gehen auf Kosten des öffentlichen Vertrauens in die Aussagen traditioneller autoritativer Stimmen und Institutionen15“.
Technologische Fortschritte und der Aufstieg sozialer Medien verstärken diese Trends, indem sie die Verbreitung von Narrativen beschleunigen und sogenannte „Filterblasen“ schaffen, die Individuen in ideologisch gleichgesinnten Informationsräumen isolieren. Diese Dynamik, gepaart mit einer Vertrauenskrise, vertieft die gesellschaftliche Polarisierung, indem sie geteilte Realitäten fragmentiert und die postfaktische Kondition weiter verfestigt16.
Wenn wir die Wurzeln der Vertrauenskrise genauer betrachten, liefert Bruno Latours Argument, das von Bernard E. Harcourt17 zitiert wird, eine entscheidende Einsicht in die Herausforderungen der Wahrheit in der heutigen Gesellschaft. Latour betont, dass der globale Klimawandel zwar eine faktische Realität ist, aber nicht universell als solche anerkannt wird, weil Fakten inhärent auf Vertrauen basieren. Eine Tatsache kann nicht autonom, unabhängig vom sozialen Gefüge existieren – sie hängt davon ab, wer sie präsentiert, wie sie etabliert wird und in welchem Kontext sie kommuniziert wird. Während Faktizität essenziell ist, müssen sich Fakten in das gemeinsame gesellschaftliche Leben integrieren, um Bestand zu haben18.
Latour hebt hervor, dass eine zerrüttete Gesellschaft – geprägt von Betrug und Ausbeutung – keinen fruchtbaren Boden für die Kultivierung von Vertrauen und die Bewahrung von Wahrheiten bietet. Fakten, so argumentiert er, „stehen nicht von selbst“. Sie benötigen funktionierende Institutionen, eine robuste Öffentlichkeit und kollektive Praktiken, um akzeptiert und geglaubt zu werden. Das bloße Wiederholen oder Lehren von Fakten in isolierter Form reicht nicht aus; sie müssen in eine geteilte Realität eingebettet sein und von einem kohärenten und vertrauenswürdigen sozialen Rahmen getragen werden (ebd.).
Die Rolle der Identität in der postfaktischen Ära
Wenn wir die Wurzeln des Vertrauensverlusts genauer betrachten, wird laut Michlin-Shapir deutlich, dass das Zusammenspiel von Wirtschaft, Desinformation und identitätszentrierter Politik nicht nur ein Symptom, sondern eine grundlegende Ursache der postfaktischen Realität ist19. Sie betont, dass der Zusammenhang zwischen neoliberaler Wirtschaftspolitik und Desinformation zwar entscheidend, aber nicht vollständig sei. Ohne eine Auseinandersetzung mit den langjährigen Ungerechtigkeiten, wirtschaftlichen Ungleichheiten und sozialen Disparitäten, die durch Jahrzehnte neoliberaler Politik entstanden sind, wird Desinformation weiterhin ein attraktives Instrument für Akteure bleiben, die disruptive politische und wirtschaftliche Ziele verfolgen (ebd.).
Im Zentrum von Desinformation steht die Mobilisierung von Identität, die eine entscheidende Rolle bei der Beeinflussung der öffentlichen Wahrnehmung spielt20. Sie erklärt, dass „die aktuelle Welle der Desinformation ohne die verführerische Kraft der Identitätsmobilisierung kaum vorstellbar ist“ (ebd.). Während der US-Präsidentschaftswahlen 2016 setzte die russische Internet Research Agency (IRA) gezielt auf emotionale Ansprachen an nationale, religiöse und ethnische Identitäten, indem sie Facebook-Anzeigen schaltete, die darauf abzielten, „Emotionen auf beiden Seiten des politischen Spektrums zu schüren21“. Dies zeigt, wie identitätsbasierte Politik genutzt wird, um Gesellschaften zu polarisieren und Desinformation zu verstärken.
Diese Dynamik führt zu einem Rückkopplungseffekt: Wirtschaftliche Notlagen schaffen psychologische und soziale Bedingungen, die Identitätspolitik begünstigen, das Vertrauen in Institutionen untergraben und die Verbreitung von Desinformation weiter befeuern. Michlin-Shapir22 unterstreicht diesen Mechanismus und hebt hervor, dass Desinformation und Identitätsmobilisierung sich gegenseitig verstärkende Prozesse sind, die globale wirtschaftliche und politische Strukturen destabilisieren.
Globalisierung und Identität
Globalisierung und Neoliberalismus haben die Routinen und sozialen Strukturen aufgebrochen, die Individuen einst Stabilität boten, und damit eine tiefgreifende Unsicherheit geschaffen – ein Phänomen, das Anthony Giddens als „ontologische Unsicherheit“ bezeichnet23. Dieser psychologische Zustand fördert Angst und macht Menschen anfälliger für identitätsbasierte politische Mobilisierung – eine Dynamik, die gezielt von Desinformationskampagnen ausgenutzt wird.
Michlin-Shapir24 kritisiert die einseitige akademische Fokussierung auf die Täter von Desinformation und weist darauf hin, dass das Publikum als Empfänger solcher Kampagnen oft vernachlässigt wird. Während staatliche Akteure häufig im Kontext von „Informationskriegen“ untersucht werden, beruhen Desinformationskampagnen – insbesondere online – auf einem Sender-Empfänger-Prinzip, bei dem die Bereitschaft des Publikums zur Aufnahme der Botschaft entscheidend ist. Ängste und revanchistische Gefühle innerhalb der Bevölkerung, verstärkt durch ungelöste Identitätskonflikte, schaffen Schwachstellen, die gezielt für Manipulation und Desinformation genutzt werden25.
Wie Michlin-Shapir26 betont, „kann Identität nicht von der Diskussion über den Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit und den Aufstieg von Desinformation getrennt oder ausgeklammert werden.“ Die durch das aktuelle wirtschaftliche und politische System geschaffenen Schwachstellen dürfen nicht ignoriert werden, da sie eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung der postfaktischen Realität spielen. Dies zeigt sich besonders im Aufstieg populistischer Bewegungen wie der Neuen Rechten, die mit nationalistischen und identitätsbasierten Narrativen ihre Anhänger mobilisieren27. Solche Bewegungen nutzen Desinformation und emotional aufgeladene Rhetorik, um einfache, aber wirkungsvolle Dichotomien wie „Wir gegen Sie“ zu schaffen. Sie bieten ihren Anhängern eine sofortige emotionale Befriedigung anstelle rationaler, langfristiger Lösungen28. Indem sie ihre Politik als Schutz der nationalen Identität und Souveränität präsentieren, sprechen sie Menschen an, die durch die Globalisierung desillusioniert sind, und untergraben gleichzeitig den demokratischen Diskurs durch spaltende und destruktive Taktiken29.
Diese identitätszentrierte Form des Populismus steht in direktem Zusammenhang mit Arendts Beobachtungen über die Fragilität faktischer Wahrheit im politischen Raum. Wenn der öffentliche Diskurs nicht mehr durch rationale Debatten, sondern durch emotionale Manipulation bestimmt wird, zerfällt die gemeinsame Realität, die für eine demokratische Gesellschaft unerlässlich ist. Dadurch erhalten autoritäre Narrative zunehmend Auftrieb. Die Bewältigung dieser Dynamiken erfordert nicht nur die Bekämpfung von Desinformation, sondern auch den Wiederaufbau von Vertrauen und die Förderung inklusiver Narrative, die der Versuchung identitätsbasierter Polarisierung widerstehen30.

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für Meinungsmanipulation und Desinformation ist der Abschuss von MH17. Russland bestritt die Verantwortung für den Angriff und überflutete die öffentliche Debatte mit widersprüchlichen Thesen und Falschinformation. Dadurch wurde die faktische Wahrheit – dass Russland für den Abschuss verantwortlich war – nicht mehr als objektiv gegebe3n wahrgenommen. Statt über angemessene Reaktionen und Konsequenzen zu diskutieren, wurde die Debatte darauf verschoben, ob Russland den Abschuss zu verantworten hatte – und nicht mehr darauf, welche Maßnahmen daraus folgen sollten.
Arendts Feststellung, dass „faktische Wahrheit nicht selbstevidenter ist als Meinung“, bringt die zentrale Herausforderung von Desinformation in der westlichen Politik auf den Punkt. Faktische Wahrheiten sind – anders als rationale Wahrheiten – fragil und beruhen auf Vertrauen, einer Ressource, die systematisch durch verschiedene Faktoren erodiert wurde. Die hier diskutierten Wissenschaftler argumentieren, dass jahrzehntelange neoliberale Politiken, manipulative Praktiken und technologische Umbrüche die Grenzen zwischen Wahrheit und Meinung verwischt haben. Dadurch ist die faktische Realität zu einem umkämpften Raum geworden, der anfällig für Propaganda und Desinformation ist.
Das Beispiel der russischen Invasion in der Ukraine veranschaulicht diese Transformation in besonders drastischer Weise. Durch gezielte Desinformationskampagnen wurde die offensichtliche Aggression Russlands in den Narrativen von „Bürgerkrieg“ oder „Selbstverteidigung“ umgedeutet. Dies zeigt, dass organisiertes Lügen nicht nur Wahrheiten verzerren kann, sondern sie schrittweise durch falsche Meinungen ersetzt – bis hin zur Schaffung einer alternativen Realität. Dieser Prozess nutzt die durch soziale Ungleichheiten, ontologische Unsicherheiten und die emotionale Kraft von Identitätsmobilisierung entstandenen Schwachstellen aus und hinterlässt gespaltene und politisch destabilisierte Gesellschaften.
Wahrheit als bewusstes Denken und Handeln
Im Verlauf dieser Analyse habe ich erkannt, dass die mächtigste Waffe autoritärer Staaten nicht bloß Desinformation ist – es ist die Konstruktion einer alternativen Realität, die bewusst oder unbewusst in der westlichen Welt Akzeptanz findet. Arendts Einsicht unterstreicht die Dringlichkeit, Wahrheit als politisches Fundament zu schützen. In Zeiten der Krise brauchen Gesellschaften einen moralischen Kompass für die Politik, der auf Wahrheit und gemeinsamen Werten basiert.
Der Schutz der Wahrheit erfordert jedoch mehr als nur die Widerlegung von Lügen – er beginnt mit einem bewussten Umgang mit Meinung. Die zentrale Herausforderung unserer Zeit besteht nicht nur darin, Unwahrheiten zu entlarven, sondern zu verstehen, wie Wahrheit durch politische und mediale Prozesse überlagert wird.
In einer Welt, in der Desinformation systematisch eingesetzt wird, genügt es nicht, auf objektive Fakten hinzuweisen – es braucht eine tiefere Reflexion über die Strukturen, die Wahrheit in Meinung verwandeln.
Besonders entscheidend ist hier die Rolle der Selbstwahrnehmung: Menschen neigen dazu, Meinungen anzunehmen, die ihr Weltbild bestätigen, und widersprüchliche Informationen zu ignorieren oder aktiv umzudeuten. Studien zeigen, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen Argue to Learn („Streiten, um zu lernen“) und Argue to Win („Streiten, um zu gewinnen“) gibt. Während Argue to Win auf die Verteidigung bestehender Überzeugungen abzielt und neue Perspektiven systematisch ausblendet, fördert Argue to Learn eine erkenntnisorientierte Haltung, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, sich der faktischen Wahrheit anzunähern.
Daher ist es wichtig, bereits im Gespräch kritisch zu reflektieren, ob man gerade im Modus des Streitens, um zu gewinnen, oder des Streitens, um zu lernen, ist – denn diese innere Haltung beeinflusst maßgeblich die Richtung und Qualität der Debatte.
Desinformation und emotionale Intelligenz
Hier könnte emotionale Intelligenz (EI) eine entscheidende Rolle spielen, um die Verführung durch Desinformation zu mindern. Viele Menschen, die nicht über ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihre eigenen Emotionen verfügen oder nicht reflektieren, wie diese ihre Wahrnehmung beeinflussen, treiben wie Fische im Strom politischer Strömungen mit – sie nehmen Narrative unkritisch auf, solange sie emotional ansprechend sind, selbst wenn ihnen eine faktische Grundlage fehlt. Dieses fehlende Reflexionsvermögen führt oft zu defensiven Schutzmechanismen wie Protektionismus, der mit der Rhetorik rechtspopulistischer Parteien harmoniert.
Nicht an irreführende Narrative klammern
Durch die Förderung emotionaler Intelligenz könnten Individuen ihre Reaktionen auf Angst, Unsicherheit und Identitätsbedrohungen besser verstehen und dadurch kritischere Urteile über den politischen Kontext fällen. Dies würde es ihnen ermöglichen, sich in einer sich rasch verändernden Welt anzupassen, anstatt sich an irreführende, aber emotional wirksame Narrative zu klammern.
Das Bewusstsein für die Fragilität faktischer Wahrheiten, die Bedeutung emotionaler Intelligenz und die Notwendigkeit, die eigene Wahrnehmung und Denkprozesse kritisch zu hinterfragen, ist entscheidend, um Desinformation entgegenzuwirken und die Integrität des demokratischen Diskurses zu bewahren. Arendts Erkenntnisse, ergänzt durch eine Betonung von Selbstreflexion und emotionaler Widerstandskraft, bieten eine Perspektive, um den Kräften entgegenzutreten, die darauf abzielen, die Wahrheit zu untergraben und die Gesellschaft zu spalten. Diese Sichtweise lädt dazu ein, nicht nur die Rolle der Wahrheit in der Politik neu zu überdenken, sondern auch die Notwendigkeit, die emotionalen und kognitiven Fähigkeiten des Einzelnen zu stärken, um die Komplexität einer postfaktischen Welt zu bewältigen.
c Fotos: Valerie Maltseva
Fussnoten und Literaturhinweise
1Arendt, H. (1967) ‘Truth and Politics’, The New Yorker, 25 February. Reprinted in Between Past and Future (1968), The Portable Hannah Arendt edited by Peter Baier (2000), and Truth: Engagements Across Philosophical Traditions edited by Medina and Wood (2005).
2Oxford Languages. (2016). Word of the Year 2016: Post-truth. Verfügbar unter: https://languages.oup.com/word-of-the-year/2016/ [Zugriff am 30. Januar 2025].
3Arendt 1967: 297.
4Ebd: 302.
5Michlin-Shapir, V. (2021) ‘The Long Decade of Disinformation’, Defence Strategic Communications, 9, pp. 17-33. doi: 10.30966/2018.RIGA.9.5.
6Macnamara, zitiert in Michlin-Shapir 2021: 22
7Arendt, 296
8Ebd.
9Arendt, 297
10Arendt, 302
11BBC News (2016). EU referendum: The claim that won the referendum – and was wrong. BBC News, 10. April. Verfügbar unter: https://www.bbc.com/news/uk-politics-eu-referendum-36040060 [Zugriff am: 30.01.2025].
12Latour, B. (2018). Down to Earth: Politics in the New Climatic Regime. Übersetzt von C. Porter. Cambridge: Polity Press. Zitiert in: Harcourt, B.E. (2019). The Last Refuge of Scoundrels: The Problem of Truth in a Time of Lying.
13Bennett, W.L. and Livingston, S. (2020) ‘A Brief History of the Disinformation Age: Information Wars and the Decline of Institutional Authority’, in W.L. Bennett and S. Livingston (eds.) The Disinformation Age. Cambridge: Cambridge University Press (SSRC Anxieties of Democracy), pp. 3–40.
14Bennett & Livingston, 2020, zitiert in Michlin-Shapir 2021: 22–23
15Michlin-Shapir, 2021: 23
16Harcourt, 2019; Bennett & Livingston 2020
17Harcourt, 2019: 12f
18Latour, zitiert in Harcourt 2019: 12
19Michlin-Shapir 2021: 26
20Michlin-Shapir, 2021: 27
21Ebd.
22Ebd.
23Giddens, zitiert in Michlin-Shapir, 2021: 28.
24Michlin-Shapir, 2021: 28f
25Michlin-Shapir ,2021: 29.
26Michlin-Shapir, 2021: 28
27Harcourt, 2019.
28Harcourt, 2019: 13
29Bennett & Livingston, 2020: 10–12.
30Michlin-Shapir, 2021: 30; Harcourt 2019: 14.
Primärliteratur
• Arendt, H. (1967). ‘Truth and Politics’, The New Yorker, 25. Februar. Wiederabgedruckt in Between Past and Future (1968), The Portable Hannah Arendt, herausgegeben von Peter Baier (2000), und Truth: Engagements Across Philosophical Traditions, herausgegeben von Medina und Wood (2005).
• Bennett, W.L. and Livingston, S. (2020). ‘A Brief History of the Disinformation Age: Information Wars and the Decline of Institutional Authority’, in W.L. Bennett und S. Livingston (Hrsg.), The Disinformation Age. Cambridge: Cambridge University Press (SSRC Anxieties of Democracy), S. 3–40.
• Harcourt, B.E. (2019). The Last Refuge of Scoundrels: The Problem of Truth in a Time of Lying. Columbia Public Law Research Paper Nr. 14-628. Verfügbar unter: https://scholarship.law.columbia.edu/faculty_scholarship/2520[Zugriff am 30. Januar 2025].
• Michlin-Shapir, V. (2021). ‘The Long Decade of Disinformation’, Defence Strategic Communications, 9, S. 17–33. doi: 10.30966/2018.RIGA.9.5.
• Oxford Languages (2016). Word of the Year 2016: Post-truth. Verfügbar unter: https://languages.oup.com/word-of-the-year/2016/ [Zugriff am 30. Januar 2025].
Sekundärliteratur
• Bennett, W.L. and Livingston, S. (2020). ‘A Brief History of the Disinformation Age: Information Wars and the Decline of Institutional Authority’, in W.L. Bennett und S. Livingston (Hrsg.), The Disinformation Age. Cambridge: Cambridge University Press (SSRC Anxieties of Democracy), S. 3–40. Zitiert in Michlin-Shapir, V. (2021), ‘The Long Decade of Disinformation’.
• Giddens, A. (1991). Modernity and Self-Identity: Self and Society in the Late Modern Age. Stanford, CA: Stanford University Press. Zitiert in Michlin-Shapir, V. (2021), ‘The Long Decade of Disinformation’.
• Latour, B. (2018). Down to Earth: Politics in the New Climatic Regime. Übersetzt von C. Porter. Cambridge: Polity Press. Zitiert in Harcourt, B.E. (2019), The Last Refuge of Scoundrels: The Problem of Truth in a Time of Lying.