Geheimdienste prophezeien Putins Untergang

Wie eine nach Richard Wagner benannte, in der Ukraine und in Libyen eingesetzte Söldnertruppe auf die italienischen Parlamentswahlen Einfluss zu nehmen versucht. Was die EU tun könnte, um diese bizarre Lage elegant zu entschärfen. Wie ein Oligarch, der als Putins Koch begann, reich wurde und – gemeinsam mit einem Hitler-Verehrer – Putins Schattenarmee kommandiert. Ein russischer Sieg wäre für die europäische Sicherheitslage und die ganze Welt katastrophal. Neutralität ist so sicher wie Russisches Roulette.  Von Ludwig Bayer

Hakenkreuze ritzten Kämpfer der Wagnertruppe mit Soldatenmessern in die toten Körper gefallener Ukrainer. Als Leichenschänder betätigte sich auch der frühere Stabsoffizier Dmitri Utkin, der die Gruppe Wagner an der Front kommandiert. Bei seinen brutalisierten Untergebenen verschafft er sich Respekt durch Härte. Utkin verehrt ganz offen Hitler und dessen Lieblingskomponisten Richard Wagner. Letzterer schuf heroische Musik. Die Ouvertüre seiner Oper „Rienzi“ erklang auf Parteitagen der beiden größten totalitären Parteien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: in Hitlers NSDAP und in Stalins KPdSU.

Dies symbolisiert in subtiler Weise die Gemeinsamkeiten der Totalitarismen – und es unterstreicht die alte Einsicht: Extreme berühren sich. Richard Wagner, der sich nicht wehren kann, wurde im heutigen Russland zum Namensgeber einer menschenverachtenden SS-ähnlichen Spezialtruppe des totalitären Putinismus. Wie das Handelsblatt ironisch schreibt, „ist dem Chef der Söldnergruppe Wagner, Oberstleutnant Dmitri Utkin, die Beförderung zum ‚General‘ gelungen; genauer gesagt zum Generaldirektor der Concord Management & Consulting GmbH. Das Unternehmen betreibt eine Reihe von Restaurants und gehört dem Putin nahen Oligarchen Jewgeni Prigoschin. Utkin ist eine der dubiosesten Figuren der sogenannten hybriden Kriegsführung, derer sich Russland seit einigen Jahren bedient“.

Das Slawische Korps und die Kampfgruppe Wagner

Der 1970 geborene Berufssoldat war bis 2013 Kommandeur einer Spezialeinheit innerhalb einer Brigade des Armeegeheimdienstes GRU im westrussischen Gebiet Pskow, ehe er zum Reserveoffizier mutierte. Als solcher wechselte er zu einer scheinbar privaten russischen Sicherheitsfirma, die in Syrien ein „Slawisches Korps“ aufbaute, das die Armee von Staatschef Baschar al-Assad unterstützte. Wenig später war Dmitri Utkin – Kampfname „Wagner“ – bereits Kommandeur einer eigenen Einheit, die in Anlehnung an seinen militärischen Decknamen Gruppe Wagner genannt wird. Wie sie mit der Armee zusammenhängt, weiß das Handelsblatt: „Wagnerkämpfer trainierten in engem Verband mit russischen Soldaten und Sondereinheiten und waren sowohl in Syrien als auch in der Ostukraine und auf der Krim aktiv“.

Monatsgehälter bis zu 4.300 Dollar locken

Seit Beginn des großen Angriffskrieges Putins gegen die Ukraine im Februar 2022 wurden rasch ein paar Gesetze geändert und die Gruppe Wagner ist seither eine internationale Söldnertruppe, die je nach den Besonderheiten ihrer Einsätze Monatsgehälter bis zu 4.300 US-Dollar zahlt. Mit dieser vom Staatschef initiierten Tötungsmaschine hat der russische Staat laut Putin „nichts zu tun“. Praktisch bedeutet dies, dass die Wagnerkämpfer skrupellos die Rechte der Ukrainer und anderer Völker missachten, da sie sich an keinerlei internationales Recht gebunden fühlen. Die Wagner-Soldaten sind aber ihrerseits ebenfalls rechtlos und können gegenüber dem russischen Staat, dem sie dienen, keine Ansprüche geltend machen, wenn sie verwundet sind; ja sie werden nicht einmal statistisch erfasst, wenn sie ums Leben kommen. So bereinigt Putin seine Zahlen.

Momentan besteht die wichtigste Aufgabe der Wagner-Brutalos darin, im Donbas die Lücken zu schließen, die Putins Krieg in Putins Reihen reißt. Beobachtern fällt auf, dass die Gruppe Wagner eine immer stärkere Rolle an der Front übernimmt. Russland hat nach Erkenntnissen des britischen Geheimdienstes vom 29.07.2022 der Söldnertruppe Wagner die Verantwortung für einige Frontabschnitte in der Ostukraine übertragen. Dies könnte ein Anzeichen dafür sein, dass das russische Militär mit einem großen Mangel an eigener Infanterie konfrontiert ist, teilte das Verteidigungsministerium in London mit. Dieser Schritt ist eine deutliche Veränderung gegenüber den früheren Verwendungen der Wagnertruppe. Allerdings reichen die Wagner-Kräfte höchstwahrscheinlich nicht aus, um eine Änderung im Verlauf der russischen Invasion in der Ukraine zu bewirken. Zumal die ukrainischen Streitkräfte ihre Gegenoffensive im Süden verstärken und dort russische Truppen binden.

Scheitert Russland im Krieg gegen die Ukraine?

Nach Ansicht des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace scheitert Russland mit seinem Krieg gegen die Ukraine. Daher könne es sein, dass Putin versuche, seine Strategie erneut zu ändern. „Die Russen versagen im Moment vor Ort in vielen Bereichen“, sagte Wallace dem Sender Sky News. Als letzte Hoffnung setzt die Moskauer Führung jetzt offenkundig auf den verstärkten Fronteinsatz der „russischen Fremdenlegion Wagner“ unter dem fanatischen Hitleristen und Putinisten Dmitri Utkin.

Kann die Ukraine Gebiete zurückerobern?

Von prominenter amerikanischer Seite folgte am 30.07.2022 eine Bestätigung der britischen Einschätzung. Der ehemalige Chef des US-Auslandsgeheimdienstes David Petraeus hält die Chancen der Ukraine auf einen Sieg im Krieg gegen Russland für hoch. Es scheine „immer wahrscheinlicher, dass die ukrainischen Streitkräfte einen Großteil, wenn nicht sogar alle Gebiete zurückerobern könnten, die in den letzten Monaten von den russischen Streitkräften eingenommen wurden“, so Petraeus. Einen militärischen Erfolg Russlands halte er hingen für „sehr unwahrscheinlich“, wie er in Interviews erklärte.

Voraussetzung für einen ukrainischen Erfolg sei indes, dass die Nato „und andere westliche Staaten“ weiter „Ressourcen im derzeitigen Tempo bereitstellen“, betont Petraeus. In diesem Fall wären die ukrainischen Streitkräfte nach Ansicht des Generals in der Lage, „weitere russische Vorstöße zu stoppen“ und damit zu beginnen, „die seit dem 24. Februar von den Russen eroberten Gebiete zurückzuerobern“.

Frage der europäischen Sicherheit

Petraeus strahlt Zuversicht aus: Inzwischen hätten die Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedstaaten und anderer westlicher Nationen erkannt, dass ein russischer Sieg „für die europäische Sicherheit katastrophal“ wäre. Sie würden daher die „erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Russland keinen Erfolg haben kann“. Wagnersöldner sollen nun an der heißesten Linie der Ostukraine das putinistische System retten. Putins reguläre Armee nähert sich dem Limit. Moskau überträgt deshalb Wagner-Söldnern immer mehr militärische Befugnisse, sagt Petraeus. Er zählt in den USA zu den prominentesten Vertretern des Militärs. Seine Stimme wird weltweit gehört. Er war Oberbefehlshaber der US-Truppen im Irak, der Nato-Kräfte in Afghanistan sowie Chef des US-Zentralkommandos und des Auslandsgeheimdienstes CIA.

Fehlende westliche Hochtechnologie

Ergänzend: CNN zitierte die demokratische Abgeordnete im Repräsentantenhaus, Elissa Slotkin, die an einem Briefing der Regierung in Washington teilgenommen hat. Im Angriffskrieg gegen die Ukraine (Momentaufnahme vom 28.07.2022) sind auf russischer Seite nach Schätzungen der USA schon mehr als 75.000 Kämpfer getötet oder schwer verwundet worden. Dieser Aderlass, der Russland schwäche, sei „enorm“, meinte die Parlamentarierin. Ihre Informationen decken sich mit den Einschätzungen der britischen Regierung, wonach Putin allmählich der Atem ausgeht. Russlands Wirtschaft schrumpft jährlich um zehn Prozent, wobei das Fehlen westlicher Hochtechnologie direkte militärische Folgewirkungen hat.

Wofür sollen die Russen sterben?

Dazu kommt das Absinken der Kampfmoral, das Schwinden der Motivation unter den ethnischen Russen, die nicht wissen, wofür sie sterben sollen. Sie können sich immer weniger mit Putins Kriegszielen identifizieren, zumal (ebenfalls Ende Juli) Außenminister Lawrow offenherzig zugab, Russland wolle dem ukrainischen Volk „helfen“, seine Regierung zu beseitigen. Im Klartext bedeutet dies, dass der nur dank Wahlfälschungen an der Macht gebliebene russische Diktator die demokratisch gewählte freiheitsorientierte ukrainische Regierung vernichten will; an ihre Stelle soll sodann eine russische Satellitenkreatur vom Typ Walter Ulbricht, Ramsan Kadyrow oder Alexander Lukaschenko treten.

Russische Freiheitskämpfer

Die Ukrainer werden neuerdings von russischen Freiheitskämpfern unterstützt, die ein „Russland ohne Putin“ wollen. Sie nennen sich Russische Freiheitslegion und kämpfen nicht nur mit Militärwaffen gegen Putins Despotie. Sie treiben mit ihren zugkräftigen politischen Forderungen auch neue Formen von psychologischer Kriegsführung auf ukrainischer Seite voran: „Gegen Putins Krieg! Für ein freies Russland!“ – Auch hier lässt sich eine historische Parallele finden, nämlich zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen den britischen Kolonialismus. Dieser „War of Independence“ war zugleich eine gelungene „Nation-building“ und ein faszinierender Freiheitskampf, der selbst neu eingewanderte Engländer wie Thomas Paine so sehr in den Bann zog, dass sie sich entschieden für die Sache der Freiheit einsetzten. Um beim Beispiel Thomas Paine zu bleiben: Er verfasste mit „Common Sense“ die damals am weitesten verbreitete Schrift, die inspirierte, die Ziele formulierte und der ganzen Welt deutlich machte, dass mit der Gründung der USA ein neues Kapitel der Weltgeschichte aufgeschlagen wurde: die Durchsetzung der Freiheitsideale der Aufklärung mit unaufhebbaren Grundrechten („given by God“), dem Selbstbestimmungsrecht des Individuums und dem Recht jeder Nation auf Freiheit. Diesen – auch geistigen – Kampf führen heute die Ukrainer an vorderster Linie. Stellvertretend für uns alle.

Schojgu setzt auf Uneinigkeit der EU

Buddhisten sagen: Alles hängt mit allem zusammen. Der Kreml, dessen Armeechef Schojgu aus tuwinisch-buddhistischem Milieu stammt, setzt auf Uneinigkeit in der EU. Er hofft, mit Spezialeinsätzen der Wagnertruppe – unter Ausnützung der Schwäche Italiens – dabei nachhelfen zu können. An Putins politisch-geistiger Front im Ausland: Der Kreml will die Neuwahlen in Italien mittels des Themas Immigration beeinflussen: Libysche Milizen um den mächtigen Rebellengeneral Khalifa Haftar treiben derzeit immer mehr Migranten und Migrantinnen auf Flüchtlingsbooten nach Italien. Dabei werden sie von Söldnern der Wagnertruppe unterstützt, wie italienische Geheimdienste berichten. Russland wolle Europa damit unter Druck setzen und die Parlamentswahlen in Italien steuern.

Flüchtlinge und die Wahlen in Italien

Über die Bootsflüchtlinge in Italien berichtete die römische Tageszeitung La Repubblica am 29.07.2022, wobei sie sich ausdrücklich auf italienische Geheimdienste bezog. Russland gehe davon aus, dass eine starke Zunahme der Fluchtbewegungen einen Sieg der ausländerfeindlichen Mitte-Rechts-Parteien bei den Parlamentswahlen am 25. September begünstige. Diese sind – je weiter rechts sie stehen, umso deutlicher – putinfreundlich eingestellt. In diesem Jahr sind bereits rund 40.000 Menschen nach Fahrten über das Mittelmeer in Italien eingetroffen. Im Juli 2022 hat die Zahl der illegalen Immigranten deutlich weiter zugenommen. So warteten mehr als tausend Flüchtlinge an Bord von zwei NGO-Schiffen auf einen Landehafen. An weiteren Schiffen mangelt es nicht. Die meisten kommen aus Libyen. Das nordafrikanische Chaosland sei „wie eine Kanone, die gegen Italien gerichtet ist. Die Einwanderung ist in Hinblick auf den italienischen Wahlkampf die mächtigste Waffe für diejenigen, die die Parlamentswahlen im September beeinflussen wollen“, sagte eine so genannte „Quelle der Geheimdienste“ in Rom der Zeitung La Repubblica.

Gute Verbindungen von Rom nach Moskau

Derzeit gilt die faschismusfreundliche und migrantenfeindliche Partei „Fratelli d‘Italia“ als Favoritin – im Bündnis mit der Lega um Ex-Innenminister Matteo Salvini und der rechtskonservativen Forza Italia des ehemaligen Premiers Silvio Berlusconi. Dass sich Moskau in die Regierungskrise in Rom einmischen will, darüber haben italienische Medien schon mehrfach berichtet. Die drei rechten Parteien sollen alle mehr oder weniger gute Verbindungen zum Kreml unterhalten – sowie kritisch bis ablehnend gegenüber Waffenlieferungen an die Ukraine eingestellt sein. Und Forza-Italia-Chef Berlusconi fühlt sich mental mit Putin verbunden.

Entspanntes Verhältnis zu Faschismus und Putin

Die Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte und der Wagner-Schattenarmee Putins – beide waten in Blut – lassen die Politiker der italienischen Rechten unbeeindruckt. Meloni, Salvini und Berlusconi sprechen lieber von den nationalen Interessen Italiens als über Putins Raubkrieg. Wenn es italienischen Interessen diene, würden sie mit Putin zusammenarbeiten. Eine seltsame Parallele fällt ins Auge.

Wahlfavoritin Giorgia Meloni betont, ihr Verhältnis zum Faschismus sei „entspannt“ und sie lehne eine Distanzierung von Mussolini ab; so, wie sie auch eine Distanzierung von Putin meidet. – Im Windschatten des neuen Zaren ist Dmitri Utkin groß geworden, der zur Stunde am Don mit seiner Söldnerschar den Oberbefehlshaber Putin zu retten versucht. Utkins Verhältnis zum Nationalsozialismus könnte auch mit Melonis Worten umschrieben werden: es ist „entspannt“. Utkin lehnt jede Distanzierung von Hitler ab.

Was die Turbulenzen in Italien angeht, die Putin jetzt für seine Zwecke zu nutzen sucht, kann an eine weitere Parallele gedacht werden. Der Brexit war – so die übereinstimmende Meinung eines ORF-Chefkorrespondenten und eines zeitweiligen Bundeskanzlers – wesentlich auch Folge der falschen Migrationspolitik der EU. Das Push-back-Verbot leitet sich nicht aus dem Völkerrecht ab; es ist eine EU-Norm und könnte daher jederzeit von der EU geändert werden. Für die Mehrheit der Briten war es unerträglich, dass nichtbritische Richter in Luxemburg darüber entscheiden können, wer in das Vereinigte Königreich einwandern darf. Ähnlich würde man die Lage in Italien sehen, wenn es Giorgia Meloni gelänge, Ministerpräsidentin zu werden. Sie würde sich in diesem Fall mit der dänischen Regierungschefin Mette Frederiksen zusammensetzen und die gemeinsame Entscheidung treffen, dass illegale Einwanderer vor ihrer Anhörung in ein Land der Dritten Welt gebracht werden sollen, mit der Möglichkeit, dort alle gewünschten Anträge stellen zu können. Selbstverständlich würde für die Dauer der Bearbeitung der betreffende europäische Staat die Kosten für den Aufenthalt tragen (beispielsweise in Ruanda – entsprechend der Kopenhagener gesetzlichen Beschlusslage).

Änderungen beim Push-back-Verbot

Wenn dann Brüssel und Luxemburg durch immigrationsfreundliche Vorstöße versuchen sollten, die nationale Souveränität Italiens und Dänemarks abzuschaffen, indem sie die Zuwanderungs-Agenda an sich ziehen, würden die beiden Ministerpräsidentinnen Meloni und Frederiksen voraussichtlich auf das britische Beispiel verweisen, das Subsidiaritätsprinzip ins Spiel bringen und die europäische Ebene vor die Wahl stellen: entweder rechtliche Klarstellung der alleinigen nationalen Kompetenz in Zuwanderungsfragen – oder Austritt aus der EU.

Umgekehrt ließe sich eine solche Zuspitzung ganz einfach durch präventive Maßnahmen verhindern. Wenn Brüssel den italienischen Wählern rasch das Signal geben würde, dass die EU-Kommission nicht alles und jedes regeln will und dass sie das Europarecht so ändern wird, dass alle Bestimmungen auszusetzen sind, die die nationale Zuständigkeit in Migrationsfragen einschränken, wäre der Druck aus dem Kessel abgelassen. Giorgia Meloni verlöre ihr zentrales Wahlkampfthema. Und nach der Wahl bliebe sie in der Opposition.

Zurück zu dem ebenfalls am äußersten rechten Rand der Weltscheibe agierenden Dmitri Utkin. Über ihn gibt es neues Material. Die Gruppe Wagner wurde ursprünglich von dem russischen Oligarchen und Putinfreund Jewgeni Prigoschin finanziert, der als Eigentümer gilt, seit eine Eintragung ins argentinische Handelsregister als „Sicherheitsfirma“ erfolgte. Die Idee zur Gründung stammt jedoch vom russischen Generalstab. Es geht darum, „nicht reguläre Kämpfer“ für heikle Aufgaben einzusetzen, um die öffentliche Aufmerksamkeit und die Anzahl der Probleme im Falle eines Scheiterns zu minimieren. Dass Prigoschin zum „Eigentümer“ gemacht wurde, sei möglicherweise darauf zurückzuführen, dass er mehr im Hintergrund stand als andere kremlnahe Personen, die für die Leitung in Frage gekommen wären. Dem reich gewordenen Prigoschin sei die Sache zu riskant erschienen, aber Putin bestand darauf. Prigoschin wollte oder konnte sich letztlich nicht dem obersten Despoten widersetzen.

Formal war die Gruppe Wagner nie dem russischen Verteidigungsministerium unterstellt. Quellen berichten jedoch von engen Verbindungen in der Strategie und bei Aktionen mit dem russischen Militärgeheimdienst GRU. Dmitri Utkin war anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Tapferkeitsorden auf einem Empfang im Kreml und sprach mit Putin. Klar. Der russische Staat ist schließlich der Auftraggeber dieser paramilitärischen Organisation.

Söldner kann man auch verheizen

Der Einsatz der Gruppe Wagner hat für Russland den Vorteil, keine regulären Truppen in den Schlund der Hölle schicken zu müssen. Söldner kann man notfalls „verheizen“. Noch etwas: Die New York Times zitiert einen Militäranalysten, der recherchierte, dass die syrische Assad-Regierung gewillt war und ist, Sicherheits- und Kampfleistungen des russischen Schieß-Unternehmens gegen den Zugang zu den natürlichen Ressourcen ihres Landes wie Gas und Öl zu tauschen. Hier bleibt erneut die Frage offen, in wessen Brieftasche die Gewinne aus solchen Geschäften am Ende landen.

Die Neue Zürcher Zeitung wies auf Angaben des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes hin, der bis zu 2.000 Personen ausgeforscht haben will, die unter dem Dach von Wagner gekämpft hätten. Der Daily Telegraph berichtete nebenbei auch von serbischen Wagnerkämpfern. Die Ausbildung der Wagnersöldner erfolgt teilweise auf einem Armee-Truppenübungsplatz bei Molkino im Süden Russlands. Ein ehemaliger Kämpfer äußerte gegenüber dem britischen Sender Sky News, das Einsatztraining dauere nur ein bis zwei Monate und werde professionell von russischen Militärs durchgezogen.

Georgier werden nicht akzeptiert

Mit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine senkte Wagner seine Rekrutierungs-Anforderungen (laut Recherchen der BBC) radikal; zuvor entlassene Angehörige seien kontaktiert worden; abgelehnte Bewerber von schwarzen Listen seien plötzlich willkommen. Auch Ausländer, mit Ausnahme von Georgiern, würden akzeptiert. Ein Veteran berichtete der BBC, Wagnerkämpfer äußerten sich intern eher abwertend: „Das sind jetzt keine normalen Söldner mehr, sondern eine Art Strafbataillon“. Andere Berichte führen aus, dass das russische Verteidigungsministerium die Aufsicht über die Rekrutierungen an sich zog – es habe damit gewissermaßen die „Marke Wagner“ übernommen.

Das US-Verteidigungsministerium meldet, man habe frühzeitig „einige Anzeichen dafür gesehen, dass ‚Wagnerianer‘ ab Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine zum Einsatz gekommen seien“. Dabei sei es auch um Attentatspläne gegen den ukrainischen Präsidenten gegangen. Der britische Militärnachrichtendienst Defence Intelligence berichtete im März, dass Wagnerleute „zum Kampf in der Ukraine eingesetzt“ werden. Laut einem Mitte März 2022 veröffentlichten Bericht der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte prüfte die Gruppe Wagner zu dieser Zeit die Aufnahme von 18.000 Syrern, die der Baath-Partei des syrischen Machthabers Baschar Al-Assad angehören, um sie im Krieg in der Ukraine einzusetzen. Laut einer Meldung des deutschen Bundesnachrichtendienstes kämpfen auch zahlreiche Rechtsextreme und Neonazis im Schlepptau Putins gegen die Ukraine. Verwunderlich ist dies nicht. Denn es geht im globalen Rahmen um den Kampf der Despotien gegen die Freiheit.

Funksprüche, die vom Bundesnachrichtendienst in Zusammenhang mit dem Massaker von Butscha abgehört wurden, deuten darauf hin, dass an diesen Mordtaten auch Söldner der Gruppe Wagner beteiligt waren und dass die Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Folterungen der Zivilisten von der Moskauer Militärführung bewusst angeordnet wurden, um die örtliche Bevölkerung in Angst zu versetzen und ihren Durchhaltewillen zu brechen.

Ermittlungen verlaufen im Sand

Journalistische Neugier endet mitunter tödlich. Im April 2018 starb der russische Investigativjournalist Maxim Borodin bei einem sogenannten „unglücklichen Vorfall“: Der Publizist, der Recherchen über Aktivitäten der Söldnertruppe Wagner in Syrien anstellte, war in Jekaterinburg von seinem Balkon im fünften Stock gefallen. Im November 2019 identifizierten Journalisten auf einem Video im Internet einen Wagnersöldner, der dabei zu sehen ist, wie er gemeinsam mit Kameraden im Jahr 2017 in einer Tankstelle bei Homs einen Syrer zu Tode foltert. Der Syrer war vermutlich zuvor desertiert. 2021 erstatteten Hinterbliebene Anzeige in Russland wegen Mord und Folter. Wie in allen derartigen Fällen werden die Ermittlungen im Sande verlaufen. Mörder im Dunstkreis Putins bleiben straffrei.

Die Organisation Wagner steht seit 2017 auf der Sanktionsliste der USA. Im Dezember 2021 setzte auch die EU die Gruppe Wagner „wegen schwerer Menschenrechtsverstöße“ auf eine Sanktionsliste. So wurden in der EU vorhandene Vermögenswerte eingefroren, ein Einreiseverbot gegen betroffene Personen verhängt und ein Geschäftsverbot in der EU erlassen.

Neues Buch über die Wagner Gruppe

Um welche Geschäfte geht es bei Wagnerleuten? Ein Ex-Auftragskiller gibt nun in einem neuen Buch Einblicke in die Strukturen. Jahrelang tötete der Söldner Marat Gabidullin im Dienst der Wagnertruppe in Syrien und in der Ukraine. Doch die blutigen Kampfeinsätze im Auftrag von Russlands Mächtigen im Rahmen des angeblich privaten Militär- und Sicherheitsunternehmens Wagner haben ihn nachdenklich gemacht. Als erster Kämpfer der Schattenarmee des Kremlchefs enthüllt er im soeben herausgekommenen Buch „Wagner. Putins geheime Armee“ (Econ Verlag) einige Hintergründe: „Die Rettung des Regimes von Baschar al-Assad hat es Russland ermöglicht, sich weltweit mit Nachdruck als Beschützer und Retter von Kriminellen aller Art zu empfehlen“, schreibt Gabidullin. Wagnersöldner spielen im Sudan, in Libyen, in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik eine Rolle. Häufig geht es dabei auch um Bodenschätze und um Geld.

Wir erfahren: „Durch die Entsendung von Söldnern spart der Staat bei den Rentenansprüchen und Gehältern, die er den Soldaten der regulären Armee zahlen muss. Und es ermöglicht auch, Tote verschwinden zu lassen“. Bei völkerrechtswidrigen „Spezialoperationen“ erweitert dies den Spielraum der Staatsführung. Als direkter Verbindungsmann der Wagnertruppe in den Kreml gilt Jewgeni Prigoschin. Der 62-Jährige, der von den USA gesucht wird, stammt aus St. Petersburg. Jewgeni Prigoschin habe Putin, der einst in der Stadtverwaltung von St. Petersburg arbeitete, oft in seinem Restaurant bewirtet – weshalb er seither den Beinamen „Putins Koch“ trägt. Er besitzt viele Firmen, betreibt nebenbei mehrere Luxusrestaurants und beliefert darüber hinaus sogar die russische Armee und natürlich seine Wagnerkrieger mit stärkender Nahrung.

Welches Land greift Putin als nächstes an?

Noch interessanter als dieses Oligarchenleben erscheint ein Nebensatz in der Information über die Rekrutierung von Nachwuchskräften für Putins Söldnertruppe. Willkommen sind in der Gruppe Wagner Kampfbereite aus allen Ländern und Völkern der Welt – mit einer Ausnahme: Georgier werden nicht aufgenommen! Warum? Vor der Antwort stehen zwei Fragen: Welches Land würde Putin als nächstes angreifen, wenn die imperiale Kraft der Kolonialmacht Russland groß genug wäre, um die Ukraine niederzuwalzen? Umgekehrt: Wer lebt gefahrlos? Analog zum Sammelbegriff Benelux könnte man die Schweiz, Österreich und Liechtenstein zusammenfassend Schösli nennen. Schösli ist neutral. Dass es als ungefährdet gilt, hat mit der Neutralität nichts zu tun. Die Sicherheit von Schösli leitet sich von der Tatsache ab, dass dieser neutrale Luxus-Dreier im Zentrum Europas ausnahmslos von Ländern umgeben ist, die sowohl der EU wie der Nato angehören.

Georgien steht auf Putins Speiseplan

Solchen Sicherheitskomfort genießt Georgien nicht. Es gehört keinem Bündnis an. Es ist neutral. Es verfügt über keinen Schutzschirm. Und Teile seines Territoriums sind bereits von russischen Truppen okkupiert (Abchasien und Südossetien). Den Rest holt sich Putin so bald als möglich. Da er vermeiden will, dass bei dieser „speziellen Operation“ georgische Wagnersöldner auf alle erreichbaren Nichtgeorgier das Feuer eröffnen, gibt er – in der Herrenmensch-Pose eines zweiten „größten Feldherrn aller Zeiten“ – schon jetzt den prophylaktischen Befehl, Georgier nicht in seine Schattenarmee aufzunehmen. Denn Georgien steht auf der Speisekarte Putins – und er will sich beim Essen nicht stören lassen.