Die angestrebte Indexierung der Familienbeihilfe wird wohl ein Fall für den Europäischen Gerichtshof. Von Richard Gansterer
Die Indexierung der Familienbeihilfe, also die Anpassung der Leistung an das Kostenniveau am Wohnsitz der Kinder, wurde nun von der EU-Kommission gerügt, und das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV eröffnet. Die Kommission hat der Republik Österreich nun eine Frist von zwei Monaten gesetzt, in der sie die Indexierung wieder aufheben soll. Kommt Österreich dieser Aufforderung nicht nach, wird die Kommission den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anrufen, und eine endgültige Entscheidung herbeiführen.
Artikel 4 Koordinierungs-VO, „Gleichbehandlung“: „Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“
In Ihrer Stellungnahme kritisiert die Sozialkommissarin Thyssen die Anpassung der Familienbeihilfe an das nationale Preisniveau als „unfair“ und „rechtswidrig“. Die Indexierung treffe jene EU-Bürger, die ebenso zum Sozialsystem und der Wirtschaft beitragen wie alle anderen Österreicher.
Die Kommissarin begründet die Ablehnung der Indexierung nicht nur mit dem Allgemeinen Diskriminierungsverbot gem. Art. 18 AEUV und der Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 45ff AEUV, sondern ebenso mit der ausgestaltenden Verordnung über die Koordinierung der Sozialsysteme. Im zitierten Artikel 7 dieser Verordnung heiße es explizit, dass eine Kürzung oder Verweigerung von Familienleistungen aufgrund des Wohnortes verboten sei.
Artikel 7 Koordinierungs-VO 883/2004, „Aufhebung der Wohnortklauseln“: „Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“
Lebenshaltungskosten haben keine Relevanz
Für Thyssen seien die Lebenshaltungskosten von keiner Relevanz, wenn die Auszahlung als Pauschalbetrag im Gegensatz zu einer Kostendeckung realer Ausgaben erfolgt. Ebenso wenig sei es relevant, ob der Arbeitnehmer durch seine Beiträge die Familienleistungen mitfinanziert oder sie vom Arbeitgeber bezahlt werden. Gerade weil in Österreich die Arbeitgeber einen Pauschalbetrag an den Familienlastenausgleichfonds abführen und dieser Betrag nicht am Wohnort, den realen Kosten oder ähnlichen Kriterien anknüpft.
Präambel der Koordinierungs-VO 883/2004: „(16) Innerhalb der Gemeinschaft ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Ansprüche der sozialen Sicherheit vom Wohnort der betreffenden Person abhängig zu machen; in besonderen Fällen jedoch – vor allem bei besonderen Leistungen, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld der betreffenden Person gebunden sind – könnte der Wohnort berücksichtigt werden.“
Steuer-Charakter der Dienstgeberbeiträge
Prof. Mazal von der Universität Wien, der von der Kern-Regierung bestellte Gutachter der Indexierung der Familienbeihilfe, sieht eine objektiv gerechtfertigte Ungleichbehandlung der unterschiedlichen Sachverhalte. Er knüpft an den Steuer-Charakter der Dienstgeberbeiträge an, mit denen die Leistungen aus dem Familienlastenausgleichfonds gespeist werden. „Die Familienbeihilfe ist als teilweise Unterstützung zur Tragung der Unterhaltslast konzipiert, weshalb es auch gerecht sei, dass sich die Höhe der Beihilfe an der Höhe der Unterhaltskosten für die Kinder orientiere. Dies gelte auch für österreichische Staatsbürger, deren Kinder im Ausland lebten“, betont Mazal und erwidert damit die Kritik, die österreichische Vorlage sei indirekt diskriminierend und verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Jedes Kind ist gleich viel wert
Mazal bekräftigt seine Position in einem Interview mit Vorarlberg Online: „Jedes Kind ist uns gleich viel wert.“ Genau dieser Umstand zwinge zur Indexierung. Ziehe ein Kind aus einem ärmeren EU-Land nach Österreich, würden seine Eltern dann freilich eine höhere Familienbeihilfe erhalten, da sie ja auch höhere Kosten hätten. Warum sie diese Leistung auch ungeschmälert erhalten sollen, wenn der Aufwand geringer ist, wäre jedoch fragwürdig. „Unstrittig ist, dass die Leistung exportpflichtig ist. Die Frage ist nur, ob Österreich den Betrag exportieren muss oder den Wert.“
Das bedeutet, dass die Familienbeihilfe nicht wie man vermuten mag, eine „Familienleistung“ im Sinne des Kapitel 8, Art. 67ff. der VO 883/2004 ist, sondern eine besondere, beitragsunabhängige Leistung im Sinne des Kapitel 9, §70 VO 883/2004. Als solche wäre die Indexierung der österreichischen Familienbeihilfe eine vertretbare Option.
Was sagt das Gesetz nun wirklich?
Kapitel 8, Artikel 67, Koordinierungs-VO: „Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen: Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats.“
Da es bisher keine Indexierung in der Form gab, gibt es keine konkrete Judikatur des EuGH zu derartigen Fällen. Die Republik lässt es nun auf einen Prozess ankommen, die Kritik an dem Vorgehen kommt nicht nur von der Kommission, sondern auch von den Nachbarstaaten und natürlich etlichen Betroffenen.
Richtig, wenn auch sehr kurz, erwähnt das Gutachten von Prof. Mazal, dass die Judikatur des EuGH jeden Versuch bisher abgewehrt hat, direkt oder indirekt auf den Wohnsitz eines Anspruchsberechtigten bezugnehmende Leistungsdifferenzierungen zuzulassen. Der EuGH hat im Wege der Rechtsfortbildung vielmehr die Grundfreiheiten und den Gleichheitsgrundsatz stetig ausgebaut. Ob die technische Argumentation der Republik Österreich gegen den EuGH, der sich selbst den Grundrechte- und Grundfreiheitenschutz zur wichtigsten Aufgabe gemacht hat, überzeugen kann, bleibt abzuwarten.
Wenn die Politik keine klaren Gesetze macht
Eigentlich geht es bei der Indexierung der Familienbeihilfe um das Ringen um eine politische Einigung über die Abgeltung von Sozialleistungen. Große Kompromisse führen dabei zu oberflächlichen Formulierungen und wenige Wahlkämpfe später stehen diese erst recht im Fokus der nationalen Debatte. Wo sich die politische EU nicht einigen kann, muss der EuGH ausrücken, um anhand der recht freizügigen Grundfreiheiten und der allgemeinen Rechtsgrundsätze diese zumeist bewusst offen gelassenen Lücken im Sinne der Unionsbürger zu schließen. Das ist grundsätzlich auch in der Konstellation der Europäischen Union in Ordnung, die Politik sollte sich aber davor hüten, dem EuGH wieder einmal die Einmischung in politische Angelegenheiten vorzuwerfen, wenn sie diese nicht selbst lösen kann oder will.