Herausforderungen für Europa

Die Europawahlen am 9. Juni werden mit darüber entscheiden, ob die bisher erfolgreiche europäische Einigung neue Impulse bekommt oder stagniert. Es geht dabei um mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, wie das von einigen Kräften nun propagiert wird. Von Rainhard Kloucek, Präsident der Paneuropabewegung Österreich.

Karl von Habsburg hat die Bedeutung der Europawahl am 9. Juni in seiner „Rede zur Zukunft Europas“ am 11. Jänner 2024 klar aufgezeigt: „Die Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes entscheidet darüber, ob die Europäische Union sich zu jenem geopolitischen Akteur entwickelt, den wir aufgrund der Weltlage brauchen, wenn wir als Europäer noch eine Rolle auf der Bühne der Weltpolitik spielen wollen.“

Die europäische Einigung begann als Projekt des Kalten Krieges mit sechs recht homogenen Ländern. Durch eine gemeinsame Kontrolle der kriegswichtigen Industrien sollten Kriege zwischen den Ländern dieser Gemeinschaft, die heute zur Europäischen Union herangewachsen ist, unmöglich gemacht werden. Ein Konzept, das auch gehalten hat, weshalb oft von einer Friedensidee bzw. einem Friedensprojekt Europa gesprochen wird.

Heute, da die Europäische Union mit einem brutalen Vernichtungsangriff auf ein europäisches Land durch die Russische Föderation konfrontiert ist, wo die Europäische Union Sanktionen gegen Russland erlässt und der Ukraine über die sogenannte Friedensfazilität unter die Arme greift, wird oft argumentiert: die ursprüngliche Friedensgemeinschaft sei nun zu einer Kriegsgemeinschaft geworden, müsse aber wieder zurück zur Friedensgemeinschaft. Impliziert wird mit dieser Ansage, man solle die Unterstützung der Ukraine einstellen. Dann wäre doch Friede.

Kalter Krieg Nostalgie ist kein Konzept für die Zukunft Europas.

Kalter Krieg Nostalgie ist kein Konzept für die Zukunft Europas.

Diese Annahme ist aus zwei Gründen falsch. Erstens gibt es keinen Beleg dafür, dass ein Ende der Unterstützung der Ukraine tatsächlich Frieden bringen würde. Das Gegenteil ist wahrscheinlicher. Putin und seine Propagandisten sagen nicht nur ganz klar, dass sie das gesamte Territorium der Ukraine besetzen wollen und dabei alles was Ukrainisch ist auslöschen werden. Ein angekündigter Genozid kann keinen Frieden bringen. Zweitens sagen die Moskauer Propagandisten auch, dass sie Appetit auf Länder wie Moldau oder Estland, Lettland und Litauen (die drei baltischen Staaten) haben. Manche reden auch vom Marsch der russischen Panzer bis Berlin.

falsche Isolationistische Betrachtungsweise

Falsch ist aber auch die Umbenennung des Friedensprojektes Europäische Union in ein Kriegsprojekt Europäische Union, nur weil die Europäische Union, die Mitgliedsländer der Europäischen Union, die Nato und andere Staaten der Ukraine Hilfe liefern, um nicht von der russischen Soldateska überrannt zu werden.

Hier wird der Fehler gemacht, dass man eine isolationistische Betrachtung der Europäischen Union zu ihrem eigentlichen und einzigen Wesensmerkmal macht. Richtig ist, dass die Friedensidee Europa in der Europäischen Union bisher auf die Mitgliedsländer bezogen war. Es war eine nach innen gerichtete Sicht. Schon bei den Kriegen des Kriegesverbrechers Slobodan Milosevic gegen die anderen Völker des ehemaligen Jugoslawien hat sich gezeigt, dass diese nach innen gerichtete Sicht nicht unbedingt eine Außenwirkung auf den gesamten europäischen Kontinent entfaltet. Milosevic hat sich nicht um die Appelle der EU gekümmert, letztlich war es dann die USA, die mit einem von ihr geführten Nato-Einsatz das Ende der serbischen Expansionskriege herbeigeführt hat. Einzelne Länder der EU haben diese Aktion unterstützt, die EU als solche aber konnte nurmehr nachher mit finanziellen Mitteln zum Wiederaufbau beitragen.

Aussensicht der Europäischen Union

Das bedeutet aber nicht, dass die Europäische Union immer nur eine Sicht nach innen, geschweige denn eine isolationistische Sicht gehabt hat. Die Aufnahme neuer Mitglieder in diese Gemeinschaft, die letztlich die hohe Attraktivität der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dann der Europäischen Gemeinschaft ausgemacht hat, war eindeutig eine außenpolitische Aktion, auch wenn die heutige EU noch weit weg von einer echten europäischen Außenpolitik ist.

Das Ziel, mit der Aufnahme neuer Mitglieder die Zone von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft auf weitere europäische Länder auszudehnen, wurde zu einem Erfolgsrezept. Letztlich suchten auch die Länder der Efta (mit Ausnahmen) den Weg in die EU. Die mitteleuropäischen Länder des einstigen Ostblock hatten das gleiche Ziel. Und nach wie vor hat dieses Wesensmerkmal der EU (Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft) eine hohe Attraktivität, weshalb viele Länder den EU-Beitritt als politisches Ziel definiert haben.

Auch die Wirtschaftspolitik der EU war von Beginn an auf eine Außenperspektive gerichtet. Handelsabkommen mit anderen Weltregionen sollten den Wohlstand auf beiden Seiten vergrößern und der Exportindustrie Rechtssicherheit bringen. Internationale Schiedsgerichte, also unabhängige, auf Verträgen beruhende Gerichte, die nicht auf die politisch veränderbare Gesetzeslage in einzelnen Ländern angewiesen sind, haben sich in dieser Aufgabe bewährt.

Bürokratischer Nationalismus

Faktum ist aber, dass diese außenpolitische Orientierung der EU durch die Mitgliedsländer zunehmend torpediert wurde. Man denke an die verschiedenen Blockaden bei der Aufnahme neuer Länder, oder den Beginn der Beitrittsverhandlungen, man denke an das Gezerre bei der Visaliberalisierung für die Bürger des Kosovo, oder auch an die Blockaden bei der Unterzeichnung des Handelsabkommens mit den Mercosurstaaten.

In den meisten Mitgliedsländern der EU hat sich ein eigenartiger neuer, machtpolitischer, bürokratischer Nationalismus breitgemacht, der nach wie vor die Illusion der eigenen Größe oder der eigenen Souveränität pflegt. In vielen Fällen ist die Blockadehaltung aber noch viel abgründiger motiviert, nämlich im Interesse einzelner Gruppen, die innerstaatliche Durchsetzungskraft im Parteienspektrum haben.

Ja, eh. Aber wo bleibt das Konzept für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik?

Dazu kommt eine Bürokratisierungstendenz, die einerseits in den natürlichen Bürokratisierungsgesetzen (alles was auf einer kleineren Ebene bereits geregelt ist, wird bei einem Zusammenschluss auf höherer Ebene noch einmal geregelt, nachzulesen bei Ludwig von Mises) begründet ist, andererseits aber auch im Bestreben vieler nationaler Bürokratien, EU-Regelungen auf nationaler Ebene noch einmal zu verschärfen (Beispiel Österreich). Dass viele dieser Regelungen von der Industrie und ihren Verbänden selbst lobbyiert wurden, weil sich einzelne Branchen dadurch Vorteile verschaffen konnten, darf nicht unerwähnt bleiben.

Ergänzt werden diese Fehlentwicklungen durch das Narrativ, das nicht nur von Parteien gepflegt wird, die mit dem Ende der EU spekulieren oder die EU auf eine reine zwischenstaatliche Zusammenarbeit reduzieren wollen, wonach die EU nur eine Wirtschaftsgemeinschaft sei, als solche gegründet wurde, und sich deshalb nur darauf beschränken dürfe. Allein die Tatsache, dass man zu Beginn der europäischen Einigung die kriegswichtigen Industrien unter eine gemeinsame Behörde gestellt hat, spricht schon gegen diese Interpretation. Damit war eine politische Dimension impliziert. In den Römischen Verträgen ist von einer „immer engeren Union“ (ohne genau zu definieren, was damit gemeint ist) die Rede. Die Entwicklung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die dann am Veto Frankreichs gescheitert ist, spricht ebenfalls gegen die Reduzierung der EU auf eine reine Wirtschaftsgemeinschaft.

EU war immer mehr als nur Binnenmarkt

Die vielen nationalen Protektionismen, die den Binnenmarkt zersplittern, zeigen, dass man in vielen Mitgliedsstaaten nicht einmal die Bedeutung der EU als Wirtschaftsgemeinschaft verstanden hat. Der Ausbau des Binnenmarktes, eine massive Deregulierung und ein klares Bekenntnis zu Handelsabkommen werden aber enorm wichtig für die weitere Entwicklung der EU sein, wenn man als Wirtschaftsstandort auf der Weltbühne noch eine Rolle spielen will. Dieser Wirtschaftsstandort ist es, der den Wohlstand schafft, und damit die Voraussetzungen, um auch politisches Gewicht zu haben.

Von den Vereinigten Staaten von Europa sprach bereits der Gründer der Paneuropa-Union Richard Coudenhove-Kalergi.

Das politische Gewicht wiederum lässt sich nur durch eine echte europäische Außen- und Sicherheitspolitik erreichen. Dass wir davon weit entfernt sind, zeigen unter anderem die einzelstaatlichen Interessen, die bisher verhindert haben, dass die EU ein klares Ziel für den Krieg Russlands gegen die Ukraine definieren konnte (siehe dazu auch den Artikel „Welcome to Putingrad“). Nicht einmal die vollmundigen Versprechungen zur Lieferung von Artilleriemunition an die Ukraine wurden eingehalten, weil schlicht und einfach die Aufträge an die Produktionsfirmen nicht erteilt wurden. Dass die Ukraine heute an verschiedenen Frontabschnitten zurückweichen muss, ist eine logische Folge dieser Politik.

In der Ukraine entscheidet sich Europas Zukunft

In der europäischen Politik und in der Politik der Mitgliedsländer der Europäischen Union muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass sich an diesem Krieg die Zukunft Europas entscheidet: unterstützen die EU-Länder die Ukraine so massiv, dass sie die Invasoren aus dem Land drängen kann, so wird sich Europa, mit einem Mitgliedsland Ukraine, das dann ein starkes Bollwerk gegen den russischen Imperialismus ist, weiter entwickeln können, und wird die EU auch noch eine politische und wirtschaftliche Rolle spielen können; gewinnt Russland diesen Krieg, so wird Europa mit weiteren Angriffen Moskaus konfrontiert sein und seine Rolle auf der Bühne der Weltpolitik ausgespielt haben – Europa würde dann zu einem Vasallen einer Achse Peking-Moskau degradiert.

Entwicklungen in China und in Afrika

Wobei der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine nur eine der außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen ist. China verfolgt eine Politik, mit der das Kontrollsystem seines totalitären Systems auf andere Regionen der Welt ausgedehnt werden soll. Peking sagt das auch klar und deutlich.

Auf dem afrikanischen Kontinent sind die europäischen Länder auf dem Rückzug. Russland und China machen sich dort breit bzw. haben sich dort breit gemacht. Sie unterstützen dort diktatorische Regime um an die Rohstoffe zu kommen, die Entwicklung dieser Länder ist ihnen dabei egal. Das wiederum drängt Menschen in die Auswanderung, die dann als Einwanderung in den EU-Ländern aufschlägt. Ohne außen- und sicherheitspolitische Orientierung wird man darauf nur mit kosmetischen Aktionen wie Migrantenumverteilung reagieren können. Das Problem wird aber nicht gelöst.

Wichtige Themen fehlen im Wahlkampf

Im Wahlkampf für die Europawahl war von diesen Herausforderungen bisher nicht die Rede. Da wird – diese Bewertung bezieht sich auf Österreich – entweder gegen die EU gehetzt (also das eigene Vasallentum gegenüber Russland gefeiert) oder mit Neutralitätsfantasie der Kopf in den Sand gesteckt. Zumindest zwei Parteien plakatieren Schlagworte von einem starken Europa, nur eine kleine Partei traut sich in diesem Zusammenhang vom Ziel einer europäischen Armee und den Vereinigten Staaten von Europa zu sprechen.

Beitragsbild: Das Plenargebäude der europäischen Volksvertretung in Straßburg. c Europäisches Parlament.

Das Europäische Parlament spielt als Mitgesetzgeber auf EU-Ebene eine wichtige Rolle für die richtige Weiterentwicklung der Europäischen Union. Im Bild das Plenargebäude der europäischen Volksvertretung in Straßburg.