Der von vielen befürchtete „Rechtsruck“ ist ausgeblieben, das Europäische Parlament aber hat eine völlig neue Zusammensetzung. Ein Kommentar von Karl von Habsburg.
Viele Kommentatoren wurden nicht müde vor einem sogenannten „Rechtsruck“ im Europäischen Parlament zu warnen. Manche derer, die sich als die großen Europäer sehen, haben ihre eigene Legitimation mit ihrem Kampf gegen die Nationalisten begründet. Wie meistens in der Geschichte finden aber die angekündigten Revolutionen nicht statt, auch wenn es in einzelnen Ländern – wie beispielsweise in Frankreich oder Italien – dazu kam, dass die nationalistischen Kräfte das beste Ergebnis einfahren konnten.
Aus Frankreich kommt noch ein weiteres interessantes Detailergebnis. Am meisten Mandate dazugewonnen hat im EP die liberale Fraktion ALDE. Sie konnte 40 Sitze dazugewinnen, 21 davon kamen aus Frankreich durch den Pakt zwischen ALDE und der Partei des französischen Präsidenten Emanuel Macron (gehen wir einmal davon aus, dass dieser Pakt auch hält). Damit ist davon auszugehen, dass Frankreich über diese Fraktion versuchen wird im Europäischen Parlament eine noch stärkere Rolle zu spielen. Das wird auch für die Postenbesetzungen in Parlament und Kommission interessant.
Die bisher größte Fraktion, die Europäische Volkspartei EVP, ist zwar weiterhin die stärkste Fraktion, allerdings hat sie Mandate verloren. Ebenso erging es den Sozialisten. Die beiden Fraktionen haben damit keine absolute Mehrheit mehr in der europäischen Volksvertretung. Eine Koalition, wie wir es aus den nationalen Parlamenten kennen, gibt es zwar im Europäischen Parlament (noch) nicht, aber die wichtigsten Posten konnte man sich bisher zwischen zwei Partnern aushandeln. Jetzt braucht es einen dritten. Inhaltlich gab es diese Koalition ohnehin nie. Eine Untersuchung über die Abstimmungsergebnisse, die schon vor einigen Jahren gemacht wurde, hat klar gezeigt, dass die stärkste Fraktion EVP gleichzeitig die meisten Abstimmungen verliert, weil es in inhaltlichen Fragen andere Mehrheiten gab.
Das deutsche Wahlergebnis wird wohl Auswirkungen für einige Fraktionen haben. Sowohl in der EVP als auch bei den Sozialisten haben die deutschen Gruppen stark verloren, womit sie wohl auch an Stärke in der Fraktion einbüßen werden. Bei der Grünen-Fraktion hingegen stellt Deutschland fast ein Drittel der neuen MEP.
Noch sind diese Fraktionszusammensetzungen mit etwas Vorsicht zu genießen. Das noch bevorstehende Ausscheiden Großbritanniens (wo die Austrittsbefürworter stärkste Kraft wurden, die Tories dafür Verluste einstecken mussten) wird noch Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Fraktionen haben. In der EVP ist die Frage offen, was mit Fidesz, der Partei des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban passieren wird. Es gibt Gerüchte, dass er die EVP verlassen könnte und mit der polnischen PiS (und anderen), die in der nun zu Ende gehenden Periode in einer Fraktion mit den britischen Tories war, eine neue Fraktion gründet. Damit würde sich auch im Kräfteverhältnis einiges verschieben. Fidesz stellt immerhin 13 der derzeit 180 EVP-MEP.
Das wohl herausragendste Ereignis dieser Europawahl war aber die deutliche Steigerung der Wahlbeteiligung. Seit 1979, der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments, war sie von Wahl zu Wahl gesunken. 2019 ist sie erstmals wieder gestiegen.
Das österreichische Ergebnis ist aus mehreren Gesichtspunkten heraus interessant. Erstens war es doch erstaunlich, dass die FPÖ nach dem Ibiza-Video nicht mehr verloren hat. Nämlich noch dazu unter dem Aspekt der gestiegenen Wahlbeteiligung. Zweitens war spannend zu beobachten, dass die SPÖ dieses Video nicht nutzen konnte, Wähler von der FPÖ zurückzuholen. Das zeigt eine tiefe Schwäche der Sozialdemokratie in der Europapolitik, die ja in praktischen allen anderen EU-Ländern auch zu beobachten war. Die Tatsache, dass für viele ÖVP-Wähler das Wahlmotiv Sebastian Kurz war, lässt darauf schließen, dass Europawahlen noch immer nicht das sind, was sie in Wirklichkeit sein sollen: nämlich Wahlen, die in erster Linie der Europapolitik dienen, nicht irgendwelchen nationalen Befindlichkeiten. Hier wird es noch einiger Anstrengungen bedürfen, um die europäische Debatte auch in Richtung Europapolitik zu bringen.
Noch ist das neue Europäische Parlament nicht konstituiert. Erst dann wird man mehr sagen können, wie sich das neue Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen auswirken könnte. Und vor allem wird es über den Sommer um ganz entscheidende Weichenstellungen für Postenbesetzungen in Parlament, Kommission und Rat gehen. Österreich dürfte sich da mit der Aufkündigung der Koalition und dem anschließenden erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die Regierung selbst in eine Position der Schwäche manövriert haben.
Der Artikel erschien ursprünglich auf der Seite von Karl von Habsburg.