In seiner Rede im Rahmen des Jubiläumskongresses 100 Jahre Paneuropa forderte der Präsident der Paneuropabewegung Österreich Karl von Habsburg eine Besinnung auf die eigentliche Grundidee der europäischen Einigung, plädierte für eine massive Unterstützung der Ukraine sowie eine Anerkennung des Holodomor als Genozid, sprach sich für einen Regime-Wechsel in Russland und in Belarus aus, und erneuerte seine Forderung nach einer europäischen Außenpolitik. Die Rede wurde am 18. November 2022 gehalten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, geschätzte paneuropäische Freunde!
Wir haben gestern, exakt am 100. Jahrestag der Publikation des Artikels „Paneuropa. Ein Vorschlag“, mit einer Festveranstaltung den dreitägigen Kongress zu 100 Jahre Paneuropa begonnen. Der 17. November war übrigens auch der Geburtstag von Richard Coudenhove-Kalergi, dem Gründer der Paneuropa-Union, wenn wir das Datum nach seinem Geburtsland Japan berechnen. Wir haben heute bereits in Expertengesprächen über die Geschichte der Organisation, über die notwendige Erweiterungspolitik Richtung Südosteuropa und über den brutalen Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine gesprochen. Wir werden morgen noch über Europa zwischen Regionalismus und Geopolitik, über die Notwendigkeit einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und über die Identität Europas sprechen. Am Sonntag schließen wir diesen Kongress mit einer Heiligen Messe am 110. Geburtstag meines Vaters Otto von Habsburg ab. Der Kongress ist so gesehen eingebettet in die Geburtstage der zwei ersten Präsidenten dieser Organisation.
Ein Geburtstag, oder sagen wir besser, ein Jahrestag, ist natürlich ein guter Anlass zu feiern, er ist aber vor allem ein sehr guter Anlass, um zu reflektieren, was denn die Aufgabe einer solchen Organisation heute noch ist, ob ihr Programm noch aktuell ist, und auf welche Schwerpunkte sie in den nächsten Jahren wird setzen müssen. Wenn wir einen solchen Jahrestag mit einem solchen Kongress begehen, dann geht es uns nicht darum, dass wir uns Lorbeerkränze aufsetzen, für Verdienste, die die Generationen vor uns erworben haben, sondern darum, das Fundament für die weitere politische Arbeit zu setzen. Lassen Sie es mich mit einer Ansage meines Vaters formulieren, der in einem seiner Bücher geschrieben hat: unsere Aufgabe ist es nicht Erben zu sein, sondern zu Ahnen zu werden.
Wenn wir einen Rückblick auf die Zeit machen, in der die Paneuropa-Union gegründet wurde, dann werden wir erschreckende Parallelen zu unserer heutigen Zeit erkennen. Richard Coudenhove-Kalergi hat die Paneuropa-Idee aus einem klaren Motiv heraus entwickelt. Er wollte Europa – wir waren damals kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges – den Frieden sichern, und er wollte dafür sorgen, dass Europa nicht zum Spielball außereuropäischer Mächte wird. Er erkannte klar die Gefahr, die von Russland, damals Sowjetunion, ausgeht. Und er erkannte klar die Gefahr, die von Nationalismus und nationalen Egoismen ausgeht. Er wollte Europa eine Rolle in der Weltpolitik sichern, nicht im Sinne eines zurück zur alten Ordnung, sondern im Sinne einer Friedensmacht.
Seine Botschaft wurde damals zu wenig gehört. Europa musste einen weiteren, noch grausameren Zweiten Weltkrieg erleben, der noch dazu zu einer Teilung des Kontinents in einen freien Westen, und einen von Moskau totalitär beherrschten Osten, führte. Erst die große Wende von 1989/1990 brachte den Völkern Mittel- und Osteuropas die Möglichkeit, das Sowjetregime abzuschütteln und die Freiheit wieder zu erlangen. 1991 schließlich wurde auch die Sowjetunion aufgelöst und Länder wie die Ukraine, die im östlichen Teil des Landes Jahrhunderte unter der russischen Herrschaft gelitten hatten, konnten ebenfalls ihre Unabhängigkeit erlangen.
Im Westen lebte damals die Illusion auf, dass nun die Freiheit gesiegt hatte, und Kriege in Europa nicht mehr vorkommen würden. Die KSZE-Schlussakte, die Charta von Paris für ein neues Europa, und diverse andere Abkommen, hatten Rahmenbedingungen geschaffen, die diesen Frieden und die Freiheit Europas sichern sollten.
In der Sicherheitspolitik wurde in Europa ein Kurs gefahren, der alle militärischen Fähigkeiten einer Wehrhaftigkeit massiv reduzierte. Einerseits um so die Friedensdividende kassieren zu können und Geld in wohlfahrtsstaatliche Umverteilungsprogramme stecken zu können, andererseits weil man meinte, für Kriege hätte man eine Vorwarnzeit von zirka zehn Jahren.
Doch schon im Schatten der Wende und dem Ende der UdSSR begann am Balkan der serbische Tyrann Slobodan Milosevic mit seinem Traum von einem Groß-Serbien seine Kriege gegen die Völker des ehemaligen Jugoslawien. Genaugenommen hätte Europa diesen Weckruf hören müssen. Doch man lebte lieber weiter in der Illusion, dass nun der ewige Friede ausgebrochen sei. Man kassierte lieber die Friedensdividende und vernachlässigte die eigene Sicherheitspolitik.
Der russische Angriff 2008 auf Georgien, die Besetzung und Annexion der Krim, der Krieg in der Ostukraine, waren offensichtlich für die europäische Politik noch immer nicht als klare Anzeichen dafür erkennbar, dass der Traum vom ewigen Frieden leider nur eine Illusion ist. Anstatt neue Konzepte zu entwickeln, wie man mit einer Bedrohung aus Moskau umgehen könnte, wurde die Abhängigkeit vom russischen Gas erhöht. Konzepte einer Diversifizierung der Lieferanten wurden politisch von höchster Stelle gekippt. Österreich und Deutschland waren hier besonders anfällig für die Verlockungen des billigen Gases aus Russland. So konnte man sich auch einreden, dass der Umstieg auf sogenannte alternative Energiequellen ganz problemlos verlaufen würde.
Zum Teil setzte man noch auf das Konzept des Wandels durch Handel. Es klingt ja auch logisch, Menschen, die Handel miteinander treiben, schießen normalerweise nicht aufeinander. Die Politik des Wandels durch Handel beruht auch auf der sogenannten Interdependenztheorie. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Staaten durch gegenseitige Abhängigkeiten – Interdependenzen – so in ein Geflecht von Verträgen eingebunden werden, dass erstens alle Seiten einen Nutzen davon haben und zweitens ein Krieg dieser Staaten gegeneinander nicht mehr möglich sein würde. Eines der Fundamente dieser Interdependenztheorie ist allerdings eine rationale Handlungsweise der politischen Akteure. Krieg ist teuer und zerstört wohlstandsteigernde Handelsbeziehungen. Wer also rational (vernünftig) agiert, treibt lieber Handel mit seinem Nachbarn, als ihm den Schädel einzuschlagen. Denn mit dem toten Nachbarn kann man keinen Handel mehr treiben.
Diese rationale Handlungsweise konnte offensichtlich bei der totalitären UdSSR angenommen werden, auf die Herrschaft des Vladimir Putin trifft sie nicht mehr zu. Die Macht in der UdSSR beruhte auf den drei Säulen Partei, KGB und Rote Armee. Es war eine Machtbalance, in der der Ausfall einer rational handelnden Säule durch die anderen Säulen abgefangen werden sollte. Putins Russland hingegen beruht auf einer Fusion des in FSB umbenannten KGB mit der organisierten Kriminalität. Russland ist heute ein Mafiastaat, in dem der alte KGB-Offizier und spätere FSB-Chef Vladimir Putin gleichzeitig der Chef aller Oligarchen ist, die ihm Tribut zahlen müssen. Die Handlungsweise dieses Systems folgt der Logik und Rationalität von Verbrecherorganisationen: Gewalt zur Ausdehnung der eigenen Macht. Im Sinne Lenins ist für Putin das Gas der Strick, mit dem er die Kapitalisten aufhängen wird, die ihm den Strick zuvor nicht verkauft, sondern abgekauft haben.
Sind die Staaten Europas erst einmal abhängig vom russischen Gas, und die wohlfahrtsstaatverwöhnten Bürger erst einmal an den billigen Rohstoff gewohnt, dann lässt sich natürlich leicht Druck aufbauen und Angst vor einem kalten Winter schüren.
Dazu gesellen sich dann Populisten aller Schattierungen, die versuchen Stimmung gegen die Sanktionen zu machen. Dass nicht Europa den Gashahn abgedreht hat, sondern Putin, wird von diesen Demagogen gerne übersehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe paneuropäische Freunde!
Heute, 100 Jahre nach Gründung der Paneuropa-Union, sind wir in Europa wieder mit einem Krieg konfrontiert, von dem viele meinen, er gehe uns gar nichts an. In Wirklichkeit aber ist der Vernichtungskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ein brutaler Angriff gegen alles, wofür Europa steht.
Es ist ein Angriff auf Europa, auf unser Lebensmodell, auf Demokratie, Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft. Es ist ein Krieg, den die östliche Despotie gegen die westliche Demokratie losgetreten hat. Putin verachtet das europäische Lebensmodell. Bei aller Kritik, die auch wir gelegentlich an der europäischen Politik üben – und ich betone: auch üben müssen: kein Europäer kann ein Interesse daran haben, sich der Despotie Putins zu unterwerfen. Das wollen nicht einmal die reichen Russen, die ihre Kinder auf Schulen und an Universitäten im Westen schicken.
Natürlich können die Sanktionen den Krieg nicht beenden. Das können Wirtschaftssanktionen nicht. Aber die Sanktionen gegen das System Putin zeigen Wirkung in Russland. Das Ziel der Sanktionen muss es sein, für Russland den Krieg nicht mehr leistbar zu machen. Das Ziel einer europäischen Politik muss es sein, die Ukraine so massiv zu unterstützen, und das bedeutet vor allem mit militärischem Gerät zu unterstützen, dass sie auf diese Weise Russland an den Verhandlungstisch zwingen kann.
Die Paneuropa-Union hat dazu bei einer Sitzung des Präsidiums in Zagreb ein Positionspapier verabschiedet, aus dem ich ein paar Kerngedanken zitieren möchte:
Wir brauchen eine klare Definition des Kriegszieles, also die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine.
Wir müssen die legistischen Voraussetzungen schaffen, um im Westen eingefrorene russische Vermögen für den Wiederaufbau der Ukraine einsetzen zu können.
Wir müssen auch entsprechende Reparationszahlungen Russlands einfordern, um die Schäden in der Ukraine zu reparieren. Ich denke aber konkret auch an Reparationszahlungen für die Flüchtlinge, deren Höhe sich an den Gehältern der russischen Söldner orientieren sollte.
Wir brauchen eine Unterstützung der Zivilgesellschaft in Russland, die für eine demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung des Landes eintritt.
Natürlich müssen wir für einen Regime-Wechsel in Moskau eintreten. Ich wundere mich immer wieder, wenn es da Meinungen gibt, dass man doch so einen Regime-Wechsel nicht fordern könne. Wie glaubwürdig ist denn dieses Regime Putin noch? Putin hat praktisch alle Verträge gebrochen, die seit der KSZE-Schlussakte geschaffen wurden, um eine friedliche Zukunft zu schaffen. Würde sich irgendjemand von Ihnen mit jemanden an den Verhandlungstisch setzen, der sie über mindestens zwei Jahrzehnte belogen und getäuscht hat, und alle Vereinbarungen gebrochen hat?
All das bedeutet klarerweise, dass der internationale Strafgerichtshof Verfahren gegen Putin und sein System vorbereiten muss.
Ich unterstütze auch sehr deutlich die Forderung, den Holodomor, also den von Stalin gegen die Ukraine entfachten Hungerkrieg als Genozid anzuerkennen. Dieser Versuch alles Ukrainische zu vernichten hat vor 90 Jahren stattgefunden. Wenn wir heute in die Ukraine blicken und sehen, wie die russische Führung ganz gezielt versucht jegliche Infrastruktur des Landes zu zerstören, dann ist auch das ein Versuch, alles Ukrainische auszulöschen.
Gleichzeitig soll damit Europa unter Druck gesetzt werden. Denn aus einem zerstörten Land, in dem die Menschen im Winter nicht mehr heizen können, weil die Energieinfrastruktur zerstört ist, wird es weitere Fluchtbewegungen in die EU geben. Wir alle wissen, wie heikel das Thema Flüchtlinge bei uns diskutiert wird und auch wiederum von Populisten instrumentalisiert wird. Und genau deshalb wird es unsere Aufgabe sein, weiter dafür zu sorgen, dass Europa alles tut was möglich ist, um die Ukraine zu unterstützen. Es ist ja schon irgendwie beschämend, dass erst dieser russische Vernichtungskrieg kommen musste, um der Ukraine den Beitrittskandidatenstatus zur EU zu gewähren. Es war eine langjährige Forderung der Paneuropa-Union, die alte Nachbarschaftspolitik, die ja einen EU-Beitritt ausgeschlossen hat, in eine Beitrittspolitik hin zu entwickeln.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin von einem notwendigen Regime-Wechsel in Moskau gesprochen. Das gleiche gilt aus meiner Sicht auch für Belarus. Ein Regime wie das von Lukashenko passt nicht nach Europa. Europa muss ein Kontinent der Freiheit sein. Dafür sind die Belarussen auf die Straße gegangen, dafür wurden zehntausende von ihnen in Straflager verfrachtet, wo sie vom Regime brutal misshandelt werden.
Liebe paneuropäische Freunde!
100 Jahre nach Gründung der Paneuropa-Union bleibt für diese traditionsreiche Organisation noch viel zu tun. Wenn ich hier den Begriff „traditionsreich“ verwende, dann auch deshalb, weil ich Tradition mit einer Definition verbinde, von der ich leider nicht mehr weiß, wo ich sie aufgeschnappt habe. „Tradition ist das Kapital der Weisheit vieler Generationen.“
Wir können als Paneuropäer auf vieles stolz zurückblicken, was bereits geschaffen wurde, wir müssen das aber im Sinne des eingangs zitierten Auftrages, zu Ahnen zu werden, weiterentwickeln.
Wir sind in vielerlei Hinsicht heute mit einer neuen Form nationaler Egoismen konfrontiert. Das beste Beispiel dafür ist die Erweiterungspolitik Richtung Südosteuropa. 2003, also vor bald 20 Jahren, wurde diesen Ländern die Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt. Und bei aller Kritik, die wir an nationalistischen Tönen in diesen Ländern üben müssen, zeigt uns eine Bilanz, die wir heute ziehen, dass hier noch viel zu tun ist. Immer wieder wird von einzelnen Staaten blockiert.
Denken wir zurück an die Aufnahme von Spanien, Portugal und Griechenland in die EU oder damals noch EG. In allen drei Ländern waren vor dem Integrationsprozess Militärregierungen an der Macht. Es waren damals die Regierungen der EG-Länder, die eine politische Entscheidung getroffen haben, den Beitrittsprozess mit diesen Staaten zu beginnen. Griechenland trat 1981 der Europäischen Gemeinschaft bei, Spanien und Portugal folgten 1986. Die Kommission, als Hüterin der Verträge, sprach sich damals gegen den Beginn der Beitrittsverhandlungen aus, weil die Länder ihrer Meinung nach nicht reif dafür waren. Die politische Entscheidung im Rat, also der Vertretung der Mitgliedsländer lautete: wir wollen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in diese Länder bringen. Deshalb wollen wir sie integrieren. Diese Zielvorstellung, dieses politische Ideal galt übrigens auch nach 1989, nach dem Ende des Eisernen Vorhanges, für den dann beginnenden Beitrittsprozess für mehrere der ehemaligen Ostblockländer.
Wenn ich mir die heutigen Blockaden gegen die Erweiterung anschaue, dann muss ich sehr stark den Eindruck gewinnen, dass diese europäische Idee in den Staatskanzleien Europas verschüttet wurde. Wir hatten gestern die Ehre, einer Rede der Staatspräsidentin des Kosovo zu lauschen. Das Land ist das letzte Land in Europa, für dessen Bürger es eine Visapflicht für die EU gibt. Keinem Land wurden so viele Auflagen erteilt wie dem Kosovo, um die Visaliberalisierung zu erreichen. Die Republik Kosovo hat alle Auflagen erfüllt, das steht zweifelsfrei fest. Und es genieren sich einzelne Staatschefs, die gerne große europäische Reden schwingen und das Land, das sie vertreten, als Gründerstaaten der EU interpretieren, nicht, unter fadenscheinigen Ausreden immer wieder diese Visaliberalisierung zu blockieren.
Hier geht es auch um die Glaubwürdigkeit Europas als geopolitischer Akteur! Wenn wir nicht zum Spielball außereuropäischer Mächte werden wollen, um wieder auf einen Gründungsgedanken der Paneuropa-Union zurückzugreifen, dann müssen wir auch in der Lage sein, zuverlässige Politik zu machen. Rechtsstaatlichkeit bedeutet auch, dass verbindliche Zusagen nach Erfüllung der verlangten Bedingungen eingehalten werden.
In der Politik gibt es kein Vakuum. Die Blockadepolitik einzelner EU-Länder gegen die Erweiterung macht den Raum frei für andere außereuropäische Mächte. Es ist kein Geheimnis, dass Russland und auch China ganz massive Interessen am Balkan haben, und auch die Rolle der Türkei darf nicht unterschätzt werden.
Die Erweiterungspolitik ist ein Teil der europäischen Außenpolitik. Und da komme ich wieder auf die ursprüngliche Paneuropa-Idee zurück. Ich habe ja oft den Eindruck, dass angesichts diverser Krisenerscheinungen, von denen viele auch aufgrund einer Politik der Problemverschleppung hausgemacht sind, das eigentliche Ziel der europäischen Einigung aus den Augen verloren wurde. Ziel der europäischen Einigung war nicht eine einheitliche Steuerpolitik, noch dazu bei den extrem hohen Steuersätzen, die heute charakteristisch für viele EU-Länder ist. Ziel war auch nicht ein alles regulierender umverteilender Wohlfahrtsstaat, der sich in immer mehr Bereiche des täglichen Lebens einmischt.
Ziel war die Schaffung einer Zone der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts! Das müssen wir wieder klar betonen!
Das Wesen des liberalen Rechtsstaates ist eben nicht die staatliche Durchsetzung einer bestimmten Glücks- und Wohlfahrtsvorstellung. Aufgabe des liberalen Rechtsstaates ist es, Recht und Freiheit zu garantieren!
Eine Ideologie, die dem Primat der Politik folgt, nimmt für sich in Anspruch, alles regeln zu dürfen, ja alles regeln zu können. Je mehr die Politik das tut, umso tiefer aber wird der Konflikt mit dem Recht. Dieser Konflikt wird immer schärfer, weil immer seltener rechtsstaatliche Grundsätze regieren – also die Herrschaft des Rechts -, sondern Machtverhältnisse. Dieser Konflikt wirkt sich langfristig zum Schaden Europas aus.
Auswirkungen dieser falschen Politik, die meint alles regeln und kontrollieren zu können, merken wir mittlerweile ganz stark. Wir haben in den vergangenen 50 oder mehr Jahren einen Wohlfahrtsstaat entwickelt, der vorgegeben hat, den Menschen immer mehr Sorgen abnehmen zu können. Das war nicht nur eine Schuld der Politiker, die auf diese Weise Wählerstimmen sammeln konnten. Das war auch eine Folge der Bequemlichkeit der Bürger. Wer träumt nicht von einem sorgenfreien Leben, in dem der Staat einem alles abnimmt.
Im Endeffekt sind wir in einem Zustand angelangt, in dem jeder meint, der Staat müsse genau seine Freiheitsvorstellungen umsetzen. Es ist logisch, dass dies zu einem politischen Zielkonflikt führt, den keine Regierung (und auch keine Opposition) mehr lösen kann.
Deshalb, meine sehr geehrten paneuropäischen Freunde, brauchen wir in der Europapolitik wieder eine Konzentration auf die Kernelemente des Paneuropa-Konzeptes. Eine Zone der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts lässt sich dauerhaft nur schaffen und sichern, wenn wir zu einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik kommen. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, und ich habe den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, der auch ein Angriff auf die europäische Wertegemeinschaft ist, genauso wie die notwendige Erweiterungspolitik erwähnt, sollten diese Notwendigkeit einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik für jeden erkennbar machen.
Hier geht es genau um jene Frage der Souveränität, von der viele nationale Egoisten so gerne sprechen. Denn Souveränität, meine Damen und Herren, bedeutet im konkreten Fall die Fähigkeit zu handeln und zu gestalten. Eine europäische Außenpolitik würde vom Potenzial einen eindeutigen Mehrwert gegenüber einer reinen Nationalstaatspolitik bringen. Um es weiter zu präzisieren: Europäische Außenpolitik bedeutet nicht nur Koordinierung der Außenpolitik von 27 Mitgliedsländern durch den Hohen Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (der gleichzeitig auch einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission ist), und wo einzelne Länder beispielsweise bei wichtigen Fragen wie der Menschenrechtspolitik in China, oder bei Sanktionen gegen den KGB-Agenten Patriarch Kyrill eine europäische Stellungnahme blockieren können, sondern ein EU-Außenministerium mit einem Außenminister (oder einer Außenministerin) an der Spitze.
Dazu brauchen wir einen Kern einer europäischen Verfassung, in der genau diese außenpolitische Kompetenz für die Europäische Union festgeschrieben wird. Ein Punkt übrigens, der auch allen Anforderungen der Subsidiarität entsprechen würde. So wie jetzt jeder Außenminister der parlamentarischen Kontrolle seines Landes unterliegt, würde ein EU-Außenminister der parlamentarischen Kontrolle des direkt von den Bürgern der EU gewählten Europäischen Parlamentes unterliegen.
Dass das nicht so einfach sein wird, ist mir klar. Ich habe die nationalen Egoismen in vielen Fragen bereits angesprochen.
Aber wir sind hier bei einer Festveranstaltung zum 100. Jahrestag der Gründung der Paneuropa-Union. Wer hätte sich 1922 vorstellen können, dass wir heute eine Europäische Union haben? Mit all den Schwächen, die es immer noch gibt. Wer hätte sich 1979, als die UdSSR in Afghanistan einmarschiert ist, vorstellen können, dass zehn Jahre später der Eiserne Vorhang fällt? Wer hätte sich am Abend des 24. Februar 2022, als Russland seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine bereits voll in Gang gesetzt hatte, vorstellen können, dass im November 2022 Cherson, die einzige von Russland damals eroberte Gebietshauptstadt, von der Ukraine wieder befreit wurde? Wer hätte sich 2014, nach der Annexion der Krim, vorstellen können, dass die EU Ende Februar 2022 mit einer Entschlossenheit, wie wir sie gesehen haben, auf die russische Invasion in der Ukraine reagiert?
Meine sehr geehrten Damen und Herrn, liebe paneuropäische Freunde!
Es wird unsere Aufgabe als Paneuropäer sein, diese Idee einer echten europäischen Außen- und Sicherheitspolitik voranzutreiben, wo immer wir uns in die europäische Diskussion einbringen können.
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