Kommt das Prinzip Erpressung statt Prinzip Leistung?

Bilaterale Konflikte müssen gelöst werden, bevor es zum Beitritt kommt. Das steht außer Frage. Setzen sich aber willkürliche populistische Blockaden durch, tauscht Europa in der Erweiterungspolitik das Prinzip Leistung gegen das Prinzip Erpressung. Von Stefan Haböck, Vizepräsident der Paneuropabewegung Österreich.

„Warum macht er das? – Weil er es kann!“, kommt einem in den Sinn, wenn man die erneute erfolgreiche Blockade in der EU-Erweiterungspolitik verfolgt. Denn dort haben sich Blockaden als taugliches Mittel nationalistischer Politik durchgesetzt und damit massiv das Vertrauen der Menschen am Westbalkan in das vereinte Europa erschüttert.

Zum zweiten Mal wird Nordmazedonien Opfer dieser politischen Strategie. Das kleine Land, flächenmäßig so groß wie Niederösterreich und Burgenland zusammen und mit weniger Einwohnern als Wien, ist seit 17 Jahren Beitrittskandidat, und war nun schon zum zweiten Mal einer erpresserischen Blockade seiner Nachbarn ausgesetzt. Zuerst blockierte Griechenland den Beginn von Beitrittsgesprächen und drängte auf die Änderung des Landesnamens. Als dieser Konflikt beseitigt war, erhob Bulgarien ein Veto und ein Streit über Herkunft und Verwandtschaft der bulgarischen und mazedonischen Sprache und gemeinsamer (oder getrennter) Geschichte folgte.

Nachdem das Parlament in Skopje – in Abwesenheit der größten Oppositionspartei – einen Kompromissvorschlag angenommen hat, können die Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien beginnen. Da beide Staaten in den Verhandlungen gekoppelt sind, müssen die Albaner die Blockaden gegenüber Nordmazedonien mitausbaden. Europäische Solidarität halt.

Bilaterale Konflikte sind zu lösen

Nun steht außer Frage, dass es zwischen Nachbarstaaten Konflikte geben kann. Das kam in allen Teilen Europas vor. Aber natürlich sind vor allem in einer Region, die sich erst vor rund drei Jahrzehnten von der Diktatur befreite und dann auch in blutige Kriege verwickelt war (ehemaliges Jugoslawien), viele historische, kulturelle und politische Wunden offen. Diese müssen durch Gespräche, Verhandlungen und Toleranz überwunden werden. Dafür gibt es neben zuständigen politischen Gremien unter anderem auch Historikerkommissionen oder kulturellen Austausch.

Gerade die EU muss den Anspruch haben, der politische Raum zu sein, in dem friedliche Kooperation und Überwindung solcher Konflikte möglich sein müssen. Der Minderheitenschutz in Europa soll die Koexistenz von ethnischen und kulturellen Gruppen innerhalb einer Region oder eines Staates ermöglichen. Verschiedene Sprachen und Traditionen sind ein Kulturschatz des vereinten Europas.

Erpressung statt Leistung

Doch was wir nun erlebten, ist die Überführung der Erweiterungspolitik – neben den globalen Abkommen einer der wichtigsten geopolitischen Hebel der EU – in Wohl und Wehe von Willkür innenpolitischen Populismus.

Es gibt den grundsätzlichen Willen in der EU, dass man sich um die sechs Staaten des Westbalkans erweitern möchte. Das soll geschehen, wenn diese Staaten alle notwendigen Reformen, definiert in verschiedenen Kapiteln und auf Grundlage der Kopenhagener Kriterien, erfüllen. Dazu sind die Beitrittsverhandlungen da, dort muss konsequent auf Erfüllung der Kriterien gedrängt werden. Dort können eventuelle bilaterale Konflikt auf dem Verhandlungsweg gelöst werden.

Doch dieses Prinzip der Leistung, bei dem Beitrittskandidat seinen Staat reformieren muss und dafür Fortschritte erhält, wird durch steten Erfolg von Erpressungsstrategien geschwächt. Zuerst der Landesname, dann die Sprache. Was fällt dem nächsten Nationalisten ein, was ihm am Nachbarn nicht passt? Brandgefährlich sind hier historische Rückgriffe auf Landesgrenzen oder Sprachen.  Mit der (natürlich vorgeschobenen) Begründung, „Menschen, die unsere Sprache sprechen, zu beschützen“, wird gerade ein europäisches Land vernichtet. „Die Krim ist erst seit 1954 ukrainisch“ soll die gewaltsame Annexion rechtfertigen. Dass diese Argumentation gerade in einem Land auf fruchtbaren Boden fällt, das bis vor 31 Jahren geteilt war, ist zynische Ironie der Geschichte.

Doch man braucht bei Kritik an Blockaden in der Erweiterungspolitik nicht mit dem Finger nur auf Südosteuropa zeigen.

Die „alten“ EU-Staaten haben großen Anteil am Frust in Südosteuropa. Der Kosovo hat fast 100 Bedingungen erfüllt und die versprochene Visaliberalisierung, als einziges Land, noch immer nicht erhalten.

Europa verspielt Vertrauen

Die europäische Zögerlichkeit destabilisiert Südosteuropa. Junge Menschen wandern ab, Populisten nutzen politische Instabilität, und da es nie ein geopolitisches Vakuum gibt, nutzen außereuropäische Mächte die Situation, um ihren Einfluss geltend zu machen. Wenn wir in einer Zeit, in der halb Europa der Erpressung eines Rohstofflieferanten ausgesetzt ist, noch immer nicht gelernt haben, dass wir uns als Europäer nicht in Abhängigkeit anderer Mächte begeben dürfen, dann ist unserem Kontinent nicht mehr zu helfen.

Der Artikel erschien ursprünglich in der Wiener Zeitung.

Stellungnahmen der Paneuropa-Union Mazedonien und der Paneuropa-Union Albanien zu den Erweiterungshandlungen finden Sie hier und hier.

c Beitragsbild: Europäische Union 2019 Mauro Bottaro