Konferenz zur Zukunft Europas

Die europäische Politik braucht wieder eine klare Idee, wohin die europäische Einigung gehen soll. Seit Mai sollte dazu eine Konferenz zur Zukunft Europas tagen. Doch noch sind einige Fragen dazu offen, der Beginn unklar. Von Rainhard Kloucek

Genaugenommen sollte sie längst tagen. Die „Konferenz zur Zukunft Europas“. Am Europatag, am 9. Mai, unter kroatischer Ratspräsidentschaft, hätte in der kroatischen Hauptstadt Zagreb (Agram) feierlich der Beginn dieser Debatte über die Zukunft Europas über die Bühne gehen sollen. Immerhin ist die zuständige Kommissarin Dobravka Suica eine Kroatin. Doch da war bereits das Virus namens Covid unterwegs, und machte eine derartige Veranstaltung unmöglich. Also wurde einmal verschoben.

Dann kursierte ein Termin im September, unter deutscher Ratspräsidentschaft. Aber auch der hielt nicht. Noch Anfang November ergab eine Anfrage bei Kommissarin Suica, dass sie davon ausgeht, diese Konferenz werde noch in diesem Jahr beginnen. Zu Redaktionsschluss dieses Artikels am 27. November gab es allerdings noch immer keinen konkreten Termin für den offiziellen Beginn dieser Konferenz. Covid, das war allerdings bereits klar, ist nicht der Grund, warum die Konferenz noch auf einen offiziellen Beginn wartet.

Die Idee kam vom Präsidenten Frankreichs

Ursprünglicher Erfinder dieser Konferenz war der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. In seiner Elysee-Rede Anfang März 2019, noch vor der Europawahl, präsentierte er eine Reihe von Maßnahmen, mit denen er die Europäische Union reformieren wollte. Diese sollten eben in einer Konferenz zur Zukunft Europas diskutiert werden. Der Abschluss war geplant für die nächste Ratspräsidentschaft Frankreichs im ersten Halbjahr 2022. Wenn es schon kein neuer Vertrag von Paris geworden wäre, dann zumindest eine feierliche Schlusszeremonie, in der die französische Politik ihre Führungsrolle in Europa dokumentiert hätte.

Parlament und Kommission

Ursula von der Leyen, die amtierende Kommissionspräsidentin, nahm die Idee einer solchen Konferenz bereits in der Bewerbungsphase für das Amt der Kommissionspräsidentin auf, und integrierte sie in die sechs Prioritäten der fünfjährigen Amtsperiode. Auch das Europäische Parlament griff die Initiative auf, und hat mittlerweile mehrere Stellungnahmen dazu abgegeben. Der Rat, auf dessen Ebene Macron seine Konferenzidee angesiedelt hatte, war letztlich die letzte der drei EU-Institutionen, die dann eine Position dazu erarbeitet hat.

Wie notwendig eine Debatte über die weiteren Schritte der europäischen Einigung ist, zeigen die vielen krisenhaften Erscheinungen in der europäischen Politik. Man denke etwa an das Gezerre um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien und Albanien oder bei der Visa-Frage für die Bürger des Kosovo. Wir haben aber auch im Zusammenhang mit den Grenzschließungen wegen der Migranten oder dann im Zuge der Pandemie gesehen, wie stark ausgeprägt nationale Egoismen sind. Der jüngste Streit um das EU-Budget, die Vermischung von Rechtsstaatlichkeit, Ideologie und Blockaden sind ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit einer zielgerichteten Debatte über Europa.

Wo sind die europäischen Persönlichkeiten?

Es scheinen die europäischen Persönlichkeiten zu fehlen, und es fehlt eine klare Zieldefinition, was Sinn und Zweck der europäischen Einigung sein soll. Für Paneuropa war das Ziel schon 1922 bei der Gründung klar. Es war ein geopolitischer Ansatz, der Europa als eigenständige politische Einheit sehen wollte, mit einer starken Betonung der Freiheit und der Werte. Nach 1945 war es das Ziel, Krieg in Europa zu verhindern. Die große Friedensidee. Nach 1989, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Untergang der Sowjetunion schien das auch noch klar zu sein. Damals war man offen für die Aufnahme der mitteleuropäischen Länder in die EU. Es gab eine klare Erweiterungsstrategie, man sprach sogar von der „Wiedervereinigung Europas“. Es ging um die Stabilisierung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und freier Wirtschaft.

Der vernünftigen Debatte entzogen

Wenn man heute Politiker fragt was denn Europa sein soll, dann kommt wahrscheinlich als gemeinsamer Nenner: Bekämpfung der Pandemie und Bekämpfung des Klimawandels, vielleicht noch das Wieselwort von der sozialen Gerechtigkeit. Das alles wird in einen Green Deal verpackt und mit einem Billionen-Budget serviert, das in seiner Dimension unfassbar ist, und damit einer vernünftigen Debatte entzogen wird.

Hochgesteckt sind jedenfalls die Ziele für die Konferenz zur Zukunft Europas, die in der Mitteilung der Europäischen Kommission im Jänner dieses Jahres formuliert wurden. „Die Zeit ist reif“, heißt es da, „um der europäischen Demokratie einen neuen Impuls zu geben.“ Wenn sich in einer zunehmend multipolaren Welt nach wie vor viele Europäer Sorgen um ihre Zukunft machen, so müsse die Europäische Union nun zeigen, dass sie darauf Antworten liefern könne. „Die europäische Politik muss sowohl den Bürgerinnen und Bürgern als auch den Unternehmen helfen, vom ökologischen und digitalen Wandel zu profitieren. Sie muss Ungleichheiten bekämpfen und dafür sorgen, dass die Europäische Union eine faire, nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft ist. … Die Konferenz wird als große paneuropäische, demokratische Übung ein neues öffentliches Forum für offene, inklusive, transparente und strukturierte Bürgerdebatten über wichtige Prioritäten und Herausforderungen sein.“

Alle Bürger sollen eingebunden werden

So sollen sämtliche Bürger der EU an den Foren teilnehmen können. „Dieses Forum sollte ein Abbild der europäischen Vielfalt sein. … Sein Ziel ist es, die Verbindung zwischen der europäischen Bevölkerung und den Organen, die für sie da sind, zu stärken.“ Auch die zuständige Kommissarin Dobravka Suica betonte in verschiedenen Videobotschaften zu Konferenzen (zuletzt für eine Veranstaltung der Paneuropa-Union Kroatien), dass alle Bürger in diese Debatte eingebunden werden.

Leichte Widersprüche tun sich bei der Frage auf, welche Themen in der Konferenz diskutiert werden sollen. So hält die Kommission in ihrer Mitteilung fest, dass ganz besonders die jüngere Generation mehr Mitsprache in der Politik fordere und sich nicht mehr damit zufrieden geben wolle, alle fünf Jahre bei Wahlen die Stimme abzugeben. In einem Zwischentitel heißt es: „Offene Diskussion über Fragen, die den Bürgerinnen und Bürgern am Herzen liegen.“ Und in der Pressemitteilung zur Mitteilung wird festgehalten, dass die Kommission keine Themen ausschließen möchte, „ist aber der Ansicht, dass die Debatte einer gewissen Struktur durch bestimmte Vorgaben bedarf und die Themen angesprochen werden sollten, die in den politischen Prioritäten der Kommission und in der strategischen Agenda des Europäischen Rates beschrieben werden.“

In allen Bereichen will man sicherstellen, dass es zu einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis kommt.

So heißt es dann in der Mitteilung weiter, es solle eine gemeinsame Erklärung der drei Institutionen (Rat, Kommission und Parlament) geben, in der „Konzept, Struktur, Gegenstand und Zeitplan der Konferenz“ festgelegt werden sollten. Die Kommission will zwei große Themenbereiche abdecken. Einerseits die Frage der Zukunft der Union, die sie in den sechs politischen Prioritäten der Kommission und der strategischen Agenda des Rates bereits vorgegeben sieht. Andererseits soll es um institutionelle Fragen gehen. Hier werden das Spitzenkandidatenmodell und länderübergreifende Listen für die Europawahlen genannt.

Das Europäische Parlament hat in zwei Entschließungen (15. Jänner 2020 und 18. Juni 2020) seinen Standpunkt definiert. So wird bereits im Jänner festgehalten, „dass die Einbeziehung der Bürger, der organisierten Zivilgesellschaft und einer Reihe von Interessensträgern auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene das Schlüsselelement dieses innovativen und originellen Prozesses sein sollte“.

Besprechen möchte das Europäische Parlament folgende Themen: europäische Werte, Grundrechte und Grundfreiheiten, demokratische und institutionelle Aspekte der EU, ökologische Herausforderungen und die Klimakrise, soziale Gerechtigkeit und Gleichstellung, wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Fragen einschließlich Besteuerung, digitaler Wandel, Sicherheit und die Rolle der EU in der Welt. Wobei betont wird, dass es sich hier nur um eine Orientierungshilfe handelt, nicht um eine „erschöpfende Zusammenstellung politischer Themen“.

Bürgerforen und ein Lenkungsausschuss

Die Struktur der Konferenz soll nach Meinung der europäischen Volksvertretung aus einer Reihe von Gremien mit unterschiedlichen Zuständigkeiten bestehen: Bürgerforen, Jugendforen, ein Lenkungsausschuss, sowie ein geschäftsführender Koordinierungsausschuss. Alle Gremien der Konferenz sollen ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis aufweisen. Die Bürgerforen sollen thematisch organisiert werden, und aus 200 bis 300 Bürgern, mindestens drei pro Mitgliedsland, bestehen.

Auch für die Plenarversammlung der Konferenz hat das Europäische Parlament ganz konkrete Vorstellungen über die Zusammensetzung formuliert. Zweimal pro Halbjahr sollte die Konferenz zu einer Plenartagung im Europäischen Parlament zusammenkommen.

In der Stellungnahme vom Juni wird der Standpunkt vom Jänner betont, auf die aktuelle Situation mit Covid Bezug genommen, und bedauert, dass der Rat noch immer keine Stellungnahme angenommen hat.

Der Rat will einen politischen Zugang

Kurz darauf, am 24. Juni hat der Rat dann seine Stellungnahme abgegeben. Die Mitgliedsländer definieren einen politischen Zugang als wesentlich. Eine Vision der EU in zehn oder 20 Jahren sollte dabei herauskommen. Deshalb will der Rat eine Konzentration auf einige Kernpunkte, wie sie beispielsweise in der strategischen EU-Agenda verankert sind. Dazu gehören Nachhaltigkeit (Klimaneutralität), gesellschaftliche Herausforderungen (Gender-Politik), Grundrechte und die internationale Rolle der EU (hier werden Außen- und Sicherheitspolitik als Beispiele genannt).

Die Institutionen sollten nach Vorstellung der Regierung der EU-Mitgliedsländer gleichberechtigt an dem Prozess beteiligt sein, Bürokratie sollte vermieden werden, und eine effektive Einbeziehung von Bürgern soll sichergestellt sein.

Wer nun meint, dass nach all den Stellungnahmen, Interessensbekundungen und Willensäußerungen die Konferenz über die Zukunft Europas beginnen könnte, der irrt. Denn es handelt sich hier um eine eminent politische Frage. Und damit ist von entscheidender Bedeutung, wer den Vorsitz führt. Da geht es um Interessen und Prestige, um Parteipolitik, nationale Egoismen und Eitelkeiten. Mindestens seit Anfang Oktober dürfte diese Frage der Hintergrund für den Aufschub des Konferenzbeginns sein.

c Beitragsbilder: Europäische Union, Europäische Union 2020 Claudio Centonze