Für die Nationalratswahl 2017 haben wir die Spitzenkandidaten der wahlwerbenden Parteien um Interviews für die Zeitschrift „Paneuropa Österreich“ gebeten. Von SP-Chef Christian Kern kam genauso keine Antwort wie von Peter Pilz. Sebastian Kurz und Ulrike Lunacek konnten keine Zeit für ein persönliches Interview finden (deswegen werden wir in der Druckausgabe nur einige Fragen und Antworten publizieren). Geführt wurden Interviews mit FP-Chef HC Sprache und News-Chef Matthias Strolz. In einem ausführlichen Interview mit „Paneuropa Österreich“ spricht NEOS-Chef und Spitzenkandidat Matthias Strolz über Konzepte zur Steuer- und Wahlrechtsreform, über die Begeisterung zu Europa, über Freiheitsmüdigkeit und ein lebendiges Parlament.
Paneuropa Österreich: Regulär wäre die Legislaturperiode noch bis Herbst 2018 gelaufen. Ist es gut, dass wir nun schon ein Jahr früher wählen?
Matthias Strolz: Österreich braucht Klarheit. Es ist für mich stimmig, dass jetzt gewählt wird. Diese Tragödie in Rot-Schwarz hat für die Menschen außer Streit und Blockade nichts mehr gebracht. Aber es passt natürlich nicht zusammen mit der Verlängerung der Legislaturperiode.
PÖ: Was die wenigsten Leute wissen, wir wählen bei dieser Wahl die Mitglieder des Nationalrates. Also jene Vertreter der Bürger, so die ursprüngliche Idee der repräsentativen Demokratie, die die Interessen der Bürger gegen die Machtausdehnung des Staates vertreten sollten. Tatsächlich geht es darum, wer die Regierung stellt, die dann mit einer Parlamentsmehrheit gleichgeschaltet ist. Ist es das, was man sich unter Parlamentarismus vorstellen muss?
Matthias Strolz: Nein, ist es nicht. Österreich hat im Sinne der Gewaltentrennung einige Strickfehler im System. Natürlich braucht Österreich ein lebendiges Arbeitsparlament, von dem wir meilenweit entfernt sind. Wir brauchen ein Ende dieses rot-schwarzen Machtkartells, das gespiegelt wird bis in die letzte Faser der Republik, bis in jeden Fußballverein und Rettungsdienst. Ich prophezeie, das wird kommen, die Frage ist nur wie schnell. Aber es wird keine 70 Jahre dauern. Dieses Machtkartell ist am Sterben und das Neue ist halt noch nicht ganz da. Idealerweise hat das dann mit einem lebendigen, pulsierenden Arbeitsparlament zu tun.
PÖ: Was Österreich von anderen Ländern in Europa unterscheidet ist ja, dass es hier in Wirklichkeit keinen Wechsel zwischen Regierung und Opposition gibt. De facto regieren die beiden gleichen Parteien seit 1945, entweder direkt in einer Koalition oder über die Sozialpartnerschaft. Diese Kontinuität haben nicht einmal die Kommunisten im Ostblock zustande gebracht. Wie kommen wir da heraus aus dieser Erstarrung?
Matthias Strolz: Der fehlende Wechsel ist ein großes Problem. Hier haben wir wenig Ähnlichkeiten mit anderen Ländern in Europa, wir sind eine Demokratie sui generis, eine Eigenschöpfung mit einem rot-schwarzen Machtkartell. Das hatte seine Legitimation nach dem Zweiten Weltkrieg, ist aber in den vergangenen Jahrzehnten immer dysfunktionaler geworden. Wie kommen wir da heraus? Offensichtlich ist die Zerschlagung dieses Machtkartells nicht einmal mehr notwendig, die können eh nicht mehr miteinander. Also Rot-Schwarz ist ausgefahren. Jetzt ist die Frage, wie schaut eine neue Machtmechanik aus? Da kommt das Angebot von NEOS: Es braucht in einer Regierung mehr neue Kräfte als alte, davon sind wir überzeugt, und es braucht dort eine zutiefst proeuropäische Verankerung. Wenn ich sage, es gibt zwei Veränderungsoptionen in Österreich, dann ist die erste eine stark proeuropäische Ausrichtung, weltoffen, liberal in der Grundhaltung, und das andere ist eine nationale Verengung mit einem Hang zu einer autoritären Regierung. Wir werden klarmachen was unser Angebot ist für dieses Land, und ich glaube, das ist hochattraktiv.
PÖ: Im Vorjahr hat Sepp Schellhorn, Wirtschaftssprecher der NEOS, einen Artikel zur Gewerbeordnung geschrieben und da den Kaiser Franz-Joseph als Liberalen bezeichnet, weil es damals wesentlich weniger Regulierung gegeben hat als heute. Heute sind wir dabei, neue Gewerbe in die Regulierung zu bringen. Was ist da konkret das Ziel der NEOS, damit man die Bürokratie reduziert?
Unternehmergeist ist der Vater des Wohlstands
Matthias Strolz: Das Ziel ist, dass wir den Unternehmergeist höher hängen wollen. Warum? Weil der Unternehmergeist der Vater des Wohlstands ist. Der Wohlstand fällt nicht vom Himmel, kommt nicht aus dem Bankomaten, sondern wird erarbeitet von unternehmerischen Menschen. Wenn ich sage unternehmerische Menschen, dann ist das natürlich Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Das ist eine Grundhaltung, einfach die Dinge anzupacken. Unser Ziel ist es, in der Gewerbeordnung auf 26 Branchengewerbe zu kommen. Nur dort wo Leib, Leben und Finanzen potenziell bedroht sind soll es Regulierungen geben. Ansonsten soll hier freie Fahrt für den Unternehmergeist gewährleistet sein. Das würde auch neue Jobs bringen. Wir brauchen neue Jobs, die entstehen nur durch Unternehmen. Die Ende Juni beschlossene Gewerbereform ist hier gerade einmal ein winziger Schritt in die richtige Richtung – von den Ansprüchen des 21. Jahrhunderts und echter unternehmerischer Freiheit sind wir meilenweit entfernt. Das zweite ist: Unternehmergeist heißt auch Steuerabgabenquote runter. Ich will, dass den Menschen am Ende des Monats deutlich mehr in der Geldtasche bleibt. Da haben wir detaillierte Konzepte. Dort, wo andere Ankündigungen machen, haben wir mit unserem Steuerreformkonzept eine klare Ansage, wo wir in einer Reformetappe über acht Jahre am Schluss jährlich 19,1 Milliarden Euro rausschneiden, ausgabenseitig. Wir würden aber auch investieren. Zuerst einmal Schulden zurückzahlen, und 3,5 Milliarden Euro investieren pro Jahr in Bildung, Forschung, Innovation. Wir haben hier einen detaillierten Plan über mehr als 27 Seiten wo wir die Konzepte auch darlegen.
PÖ: Jede Steuer ist de facto ein Griff in ein Eigentumsrecht.
Matthias Strolz: Ist so, und eine Steuerung. Steuern sollen auch steuern.
PÖ: Das ursprüngliche Konzept des Staates und der Steuern ist ja nicht davon ausgegangen, mit den Steuern das Verhalten der Bürger zu steuern, sondern dass durch die Steuern das hereinkommt, was der Staat für seine Aufgaben braucht. Aber es ist nicht das Recht des Staates den freien Bürger zu steuern, auch wenn es heute Mode geworden ist, mit Steuern zu steuern.
Matthias Strolz: Ich verstehe den Ausgangspunkt, und wir müssen auch sehr vorsichtig sein, wo, wann, wie gesteuert wird. Weil es natürlich ein Eingriff in ein Freiheitsrecht ist, nämlich die Freiheit, dass ich 100 Prozent des Einkommens bei mir habe. Die wird beschnitten zugunsten des Bekenntnisses zu einem Gemeinwesen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir brauchen gemeinschaftlich organisierte Aufgaben. Dahinter steht NEOS als liberale Kraft ganz klar. Es gibt gemeinsame Güter, öffentliche Güter, die wir gemeinsam bewirtschaften. Bildung halten wir für ein öffentliches Gut, oder Gesundheit. Natürlich auch das Thema Infrastruktur. Es macht ja keinen Sinn, dass wir sagen, der Staat fühlt sich nicht zuständig für Tunnel oder sonst was, und geben diese Aufgaben ins freie Spiel des Marktes. Ich glaube, der Markt braucht ein starkes Gegenüber im Staat. Der Markt regelt nicht alles. Es gibt öffentliche Güter, es gibt externe Effekte in der Volkswirtschaftslehre. Da braucht es einen Staat. Ich halte zum Beispiel eine Steuerung in einem sozial ökologischen Bereich für legitim. Ich halte es für legitim, dass wir auch sagen, wir haben ein progressives Steuersystem. Wer mehr verdient, leistet auch einen höheren Beitrag. Ich halte es aber nicht für legitim zu sagen, der Staat nimmt Dir mehr als 50, oder jetzt 55 Prozent. Das geht dann in Richtung Enteignung.
PÖ: Wobei das aber de facto der Fall ist. Die Abgabenquote ist jetzt bei über 40 Prozent. Wir haben aber in Österreich nur mehr knapp über 20 Prozent – unter 25 Prozent – der Bevölkerung, die netto in das System einzahlen. Das heißt, 75 oder etwas mehr als 75 Prozent – da sind Kinder und Pensionisten eingerechnet – sind Transferempfänger, Nettotransferempfänger. Das heißt, für jemanden der keinen Transfer empfängt, sondern nur einzahlt, der in einer höheren Einkommensklasse ist, der kommt mit den Verbrauchssteuern locker auf eine Steuerbelastung von 70, 80 Prozent.
Wir brauchen eine massive Entlastung der Bevölkerung
Matthias Strolz: Deswegen sagen wir, wir müssen runter gehen. Ganz klar. Also wir müssen um mindestens zehn Prozent runter kommen. Wenn wir sagen, 19,1 Milliarden wollen wir auf der Ausgabenseite rausschneiden, dann heißt das eben massive Entlastung für die Bevölkerung. Das ist nur möglich in einer achtjährigen Reformetappe mit einem Reformtempo von Schüssel 1, also von der Reformdichte her. Aber wir sind der Meinung, das geht, und wir sind auch der Meinung, dass das zu tun ist. Es rennt uns die Zeit davon. Warum? Weil wir natürlich jetzt einen zeitlichen Puffer bekommen haben durch die Niederzinspolitik oder de facto Nullzinspolitik. Wir zahlen rund sieben Milliarden Euro nur für Zinsendienst, in einer historisch einmaligen Niederzinsphase. An dem Tag – der wird kommen, so sicher wie das Amen im Gebet – an dem die Zinsen wieder steigen, sind wir massiv über zehn Milliarden. Dann geben wir für den Zinsdienst mehr aus als für 1,1 Millionen Schüler und Schülerinnen, 120.000 Lehrer, 6.000 Schulen, 300.000 Studierende in Fachhochschulen und Universitäten in über 20 Universitätsstandorten. Wir haben dasselbe Problem bei der Kosteneskalation im Pensionssystem. Das heißt, wir müssen diese Systeme neu ordnen. Sonst werden unsere Kinder nicht mehr aufstehen können, weil wir ihnen nach 55 Jahren jährlich einen weiteren Mühlstein in den Rucksack legen.
PÖ: Eine der Ursachen für diese hohe Abgabenquote ist die Tatsache, dass die Politik gerne Wohltaten verteilt.
Matthias Strolz: Ja.
PÖ: Klassische Klientelpolitik.
Matthias Strolz: Absolut. Muster struktureller Korruption sogar.
PÖ: Schumpeter hat gesagt, die Sozialisten werden deswegen siegen, weil sie immer mehr versprechen als sie einnehmen können, und die Leute werden die wählen, die ihnen mehr versprechen. Ist das eine demokratische Notwendigkeit, oder eine Gefahr?
Matthias Strolz: Wir haben hier ein Dilemma der Demokratie. Wir wissen noch nicht genau, wie wir damit umgehen sollen. Man muss auch einfach hier historisch klar sein.
PÖ: Aber interessanterweise ist es in der Schweiz nicht so. Da gibt es mehr Demokratie.
Matthias Strolz: Deswegen sage ich, es ist nicht zwangsläufig so, dass die Lage völlig aussichtslos ist. Ich glaube, dass Demokratien auch lernfähig sind. Aber wir haben schlichtweg nicht die historische Erfahrung, ob wir ein Reset der Sozialsysteme aus einer demokratischen Erneuerungskraft heraus schaffen. Historisch haben wir eine Erfahrung, dass ein Reset von gesellschaftlicher Verteilung oder anderen Dingen in der Regel immer durch Krieg passiert. Jetzt sind wir uns einig: Diese Option wollen wir nicht wählen! Wir wissen aber nicht, weil die Demokratie noch nicht alt genug sind, ob wir das schaffen. Wir wissen nur, wir haben jetzt 55 Jahre Verschuldung. Wir machen jedes Jahr verlässlich neue Schulden. Wir haben einige leuchtende Beispiele wie Schweden, die sich in den 90er-Jahren an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der Verschuldungsspirale herausgezogen haben. Das gibt Hoffnung. Also wenn das die Schweden konnten, sogar mit den Sozialdemokraten, dann sage ich: Es ist noch nicht Hopfen und Malz verloren.
PÖ: Die westliche Demokratie hat etwas hervorgebracht, das wir Wohlfahrtsstaat nennen. Der Wohlfahrtsstaat ist ein politisches Konzept um die Bürger – noch dazu mit ihrem eigenen Geld – vom Staat abhängig zu machen. Also ein Konzept des Etatismus, des Paternalismus. Heute redet man von Nudging und wie all diese Dinge heißen. Das steht doch im Widerspruch zum Liberalismus.
Matthias Strolz: Absolut. Also ich glaube auch, dass Österreich unter einer großen Freiheitsmüdigkeit leidet. Wir sind ein Volk, das freiheitsmüde geworden ist. Die Droge, die uns dahin gebracht hat, die hat natürlich etwas zu tun mit Sozialismus und mit dem Versprechen, wir organisieren Dir das schon, von der Wiege bis zur Bahre. Es wurde nie dazu gesagt, dass die Zeche aber eh Du selber zahlen musst. Es wurde nie dazu gesagt, dass wir einen Teil der Rechnung unseren Kindern umhängen. Es wird immer suggeriert, wir haben die Trendumkehr geschafft. Das ist ja gelogen.
PÖ: Österreich ist ein föderalistisches Land. In Ihrem jüngsten Buch „Mein neues Österreich – Heimat grosser Chancen“ kritisieren Sie unter anderem – ähnlich wie der Wirtschaftsjournalist Josef Urschitz in seinem Buch „Stillstand“ – den Konstruktionsfehler des österreichischen Föderalismus, wo diejenigen, die für die Ausgaben zuständig sind, nicht auch für die Einnahmen zuständig sind. Also, die Länder geben Geld aus, der Bund muss es einheben, die Länder holen sich das Geld über den Finanzausgleich. Wie lösen wir das Problem?
100 Abgeordnete direkt in Einerwahlkreisen wählen
Matthias Strolz: Von mehreren Seiten, pragmatisch. Ich glaube nicht an die große Verwaltungsreform von Österreichkonvent und andere Veranstaltungen. Die wichtigste Föderalismusreform wäre eine Halbierung der Parteienförderung, die die höchste in Europa ist, und ein neues Wahlrecht, das das Persönlichkeitswahlrecht stärkt. Wir wollen 100 Abgeordnete direkt in Einerwahlkreisen ins Parlament wählen. Warum ist das das wichtigste? Weil damit Leute ins Parlament kommen, die nicht mehr am Gängelband eines Landeshauptmanns und der Landesparteichefs hängen. Die haben keine Fußfesseln mehr.
Wir beschließen eine Bildungsreform. Unter 183 Abgeordneten wird man niemanden finden, keine einzige Person behaupte ich, die es für gut befindet, wie die Bildungsdirektion als Zwitterbehörde, gemischte Behörde geschraubt wird, wo der Landeshauptmann sich wieder zum Chef machen kann, wo der Landeshauptmann sich auch den Bildungsdirektor aussuchen kann. Das wird ein bisserl verbrämt mit irgendwelchen Kommissionen. Aber schlussendlich steht der Landeshauptmann weiterhin mit dem Parteibuch in der Schule. Es gibt niemanden, der nach bestem Wissen und Gewissen das im Vieraugengespräch verteidigen wird, und trotzdem kommt es ins Leben. Ich habe das mit dem neuen ÖVP-Chef besprochen, ich habe es mit den Verhandlungsleitern von ÖVP, SPÖ besprochen. Die haben alle ein schlechtes Gewissen. Trotzdem beschließen sie solchen groben Schwachsinn. Es ist ein Muster struktureller Korruption das hier beschlossen wird. Warum ist das so? Weil die, wenn sie abstimmen, nicht ihr Gewissen und Wissen einschalten, sondern ihr Handy und fragen, Herr Landeshauptmann, was muss ich tun. Der sagt: willst Du nächstes Mal wieder auf der Liste stehen, dann hast du folgendes abzustimmen. Wenn wir aber sagen, die kontrollieren nicht mehr das Geld und nicht mehr in dieser Dimension die Listen, dann kommen wir in allen Politikbereichen plötzlich zu ganz anderen Lösungen. Das wäre die größte Föderalismusreform, die man sich vorstellen kann.
PÖ: Wäre, um jetzt noch einmal auf die Steuer zurückzukommen, die Steuersubsidiarität eine Variante für die NEOS?
Matthias Strolz: Ich bin klar für Steuerautonomie. Es gibt Bereiche wie Infrastruktur zum Beispiel, wo es klar Länderausgaben geben soll, wenn sie bereit sind Steuerautonomie zu übernehmen. Sie müssen auch Verantwortung übernehmen, zum Beispiel für ihre Landesbeamten, Pensionssysteme. Häupl und Vassilakou haben bis 2042 Beamtenprivilegien in Wien aufrechterhalten, wo jeder Steirer mitzahlen muss und jede Tirolerin. Unverschämt. Auch das ist strukturelle Korruption. Die können wir nur durch Steuerautonomie abschaffen.
Klare Positionierung für ein geeintes Europa
PÖ: Kommen wir zur Europapolitik. Die NEOS sind ja eine politische Bewegung die sehr klar europäisch positioniert ist. Es ist jetzt eine Studie von der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik präsentiert worden, wonach für 52 Prozent der Österreicher die Frage „Reform der EU“ auch wichtig ist für die Entscheidung bei der Nationalratswahl. Was ist das Kernelement der europäischen Einigung für die NEOS? Warum ist dieses Projekt europäische Einigung so wichtig?
Matthias Strolz: Es geht um die Gemeinsamkeit, das ist unsere tiefe Überzeugung. Ich glaube, da sind wir Weggefährten mit der Paneuropabewegung. Jetzt sagen manche, aber man muss ja nicht gegeneinander sein, wenn man nicht für ein Miteinander ist. Da sage ich, aber so ist nun einmal die menschliche Dynamik. Also entweder gibt es ein Bekenntnis zum Miteinander, oder wir werden – ob wir wollen oder nicht – in ein Gegeneinander abgleiten. Das war über Jahrhunderte die Realität auf diesem Kontinent. Und eines muss uns klar sein: wir sind kraft Geografie und Bevölkerungsdichte eine Schicksalsgemeinschaft. Das können wir uns nicht aussuchen. Die Häuser stehen so eng aneinander auf diesem Kontinent, dass, wenn eine Hütte brennt, die Nachbarhütte mitabfackelt. Ich will nicht, dass unsere Hütte abfackelt, ich will nicht, dass unser Haus brennt in Österreich. Aber dann müssen wir was fürs Miteinander tun. Wir müssen uns auch als Chancengemeinschaft begreifen. Schicksalsgemeinschaft ist vorgegeben, kraft Geografie, Bevölkerungsdichte, Chancengemeinschaft ist dagegen eine bewusste Entscheidung. Wir sind die proeuropäische Kraft im österreichischen Parlament.
Wir stehen ganz klar für ein Miteinander auf vielen Ebenen: gemeinsame Außenpolitik, gemeinsame Sicherheitspolitik, gemeinsame Asylpolitik, gemeinsam die Außengrenze kontrollieren, organisieren, gemeinsam natürlich auch die Wirtschaftspolitik koordinieren, entschlossene gemeinsame Währungspolitik. Wir können aber konzentrische Kreise haben. Es muss nicht jeder bei allem im gleichen Härtegrad dabei sein. Das leben wir ja mittlerweile schon. Es sind nicht alle beim Euro dabei, es sind nicht alle in derselben Form bei Schengen dabei. Wir wollen dieses Einigungsprojekt weiter vorantreiben. Wir wollen eine gemeinsame Verfassung. Wir wollen gemeinsame Organe. Wir wollen natürlich auch, und das ist unsere Vision am Ende der Straße, in Richtung Europäische Republik gehen, und das soll eine föderale Republik sein. Das heißt, es gibt ein europäisches Volk am Ende dieses Weges. Da werden von Beginn nicht 27 Staaten dabei sein. Wir sind immer in Gruppen Entschlossener gegangen. So ist Europa gewachsen und so soll und kann es auch weiterwachsen.
PÖ: Was ist die Zielvorstellung eines liberalen Europa? Welche Politikbereiche sollen europäisiert werden, so dass sie auf europäischer Ebene – ohne Querschüsse aus den Mitgliedsstaaten – entschieden werden können. Sicherheitspolitik?
Matthias Strolz: Sicherheit, Außenpolitik, Asylpolitik, also Migrationspolitik insgesamt. Natürlich mit ganz starker Beteiligung der Regionen oder auch der Mitgliedsstaaten, in einem Staatenbund oder in einem Bundesstaat. Da sind ja verschiedene Zwischenschritte möglich. Die EU ist eine Schöpfung sui generis …
PÖ: … so wie Österreich …
Matthias Strolz: … genau. Was gehört noch hinein? Gemeinsame Währungspolitik. Wir müssen die Währungspolitik so organisieren, dass ein temporäres Verlassen der Eurozone möglich ist. Wir brauchen auch ein Insolvenzrecht, so wie es die Vereinigten Staaten haben für ihre Bundesstaaten. Wir brauchen hier Verantwortung und Freiheit. Wir brauchen auch hohe Subsidiarität. Zum Beispiel bei der Infrastruktur kann man jetzt nicht sagen, gehört das auf europäische Ebene oder auf regionale Ebene oder auf nationalstaatliche? Natürlich müssen wir gewisse zentrale Projektsteuerungen haben bei den Transitrouten. Wir brauchen aber auch Subsidiarität für kleinteilige Infrastrukturangelegenheiten.
PÖ: Die Subsidiarität steht ja seit Maastricht in den Verträgen. Sie wird aber oft falsch interpretiert, als ob sie nur zwischen EU-Ebene und dem Nationalstaat gelten würde. Aber sie muss durchgehen, bis in die Verantwortungsbereiche der Familie oder die Eigenverantwortung.
Matthias Strolz: Ja, absolut. Also wir sehen hier keinen Zentralstaat Europa. Das ist ein Graus. Dazu ist das Gefilde viel zu groß. Dafür ist das organisch gewachsene Energiefeld dieses Kontinents viel zu stark verankert in den Regionen, teilweise in den Nationalstaaten. Aber wir wissen auch, dass die Regionen als organisch gewachsene Einheiten noch stärker sind. Ich würde natürlich die regionale Kooperation massiv stärken, so wie es Tirol vorlebt, mustergültig, Trentino, Südtirol, Nordtirol, so wie es der Bodenseeraum vorlebt, sogar die Schweiz mit an Bord hat. Also wir können unser Zusammenleben multipel organisieren, ohne dass es opulent wird. Die Schweiz hat eine hochkomplexe Organisation. Nicht nur föderal mit relativ kleinen Einheiten, sondern sie hat auch noch eine Zauberformel für die Regierungsbildung. Jetzt sage ich nicht, genau das müssen wir nachmachen.
Subsidiarität ist Freiheit und Verantwortung
Wo nehmen wir Verwaltungsaufwand heraus? Da gibt es von NEOS ganz viele Vorschläge. Zum Beispiel ein ganz pragmatischer Vorschlag: Wir haben fast 20 Milliarden Euro in Österreich an Förderungen. Direkte, indirekte Förderungen, ganz viele wichtige, großartige Förderungen, und dann ganz viele Sauereien. Dreifachförderungen, strukturelle Anfütterung von Freundeskreisen. An dem Tag, an dem wir die Transparenzdatenbank scharf geschalten haben, verflüchtigen sich diese Sauereien. Unser Vorschlag ist ganz klar, und wenn im Parlament 183 Abgeordnete sitzen, die ihrem Gewissen folgen, wird es niemand geben, der das schlecht finden kann: Jenen Landeshauptleuten, die die Befüllung der Transparenzdatenbank weiter verweigern, werden ab Jänner 2018 automatisch beim Finanzausgleich 50 Millionen abgezogen. Dann hört sich das alles auf. Dann haben wir schon einen Speck rausgeschnitten, und können das Geld für sinnvolle Sachen verwenden. So kann man an jeder Ecke für Subsidiarität sorgen. Subsidiarität heißt Freiheit und Verantwortung.
PÖ: Noch einmal zurück zur Währungsunion. Die wird ja vielfach als politisches Projekt verstanden, mit dem jetzt den Leuten Europa übergestülpt wird. Mit all den Verwerfungen die wir dadurch hatten. Aber eine Währung muss atmen können. Ein Land, das wie Griechenland nicht fit ist für die Währungsunion kann man nicht mit Zwang drinnen halten. Momentan sind die Verträge so, dass sie aus dem Euro nur dann austreten können, wenn sie auch aus der EU austreten.
Matthias Strolz: Dass die Währung auch als politisches Instrument gesehen wurde, da bin ich Pragmatiker. Natürlich ist das so, weil sie eine so hohe Symbolkraft hat. Natürlich hat Europa hier Fehler gemacht. Es ist erlaubt, Fehler zu machen, selbst für Europa, so wie für jedes Kind und für jeden Erwachsenen, nur man sollte nicht jeden Fehler zweimal machen, sondern nach dem ersten Mal gelernt haben. Deswegen bin ich davon überzeugt: so wie wir ein Insolvenzrecht für Bundesländer in Österreich fordern – nach dem Hypo- und Salzburg-Desaster – brauchen wir ein Insolvenzrecht für Mitgliedsstaaten in der EU. Wir brauchen einen Umbau der Architektur für den Euro und wir brauchen temporäre Ausstiegsmöglichkeiten. Die Wirtschaftspolitik soll auch vergemeinschaftet sein, aber nicht komplett, ebenso die Fiskalpolitik. Steuerwettbewerb ist erlaubt, aber in einem gewissen Korridor.
PÖ: Wir haben jetzt 28 Staaten in der Europäischen Union, bald wahrscheinlich nur mehr 27. Wir haben eine Reihe von Ländern in Südosteuropa – Westbalkan, wie das im EU-Jargon heißt –, denen man schon 2013 den Weg in die EU versprochen hat. Wir haben Länder die eindeutig europäisch sind, aber in der Nachbarschaftspolitik vom Beitrittsprozess ausgeschlossen sind. Nachbarschaftspolitik bedeutet vieles, aber nur nicht Beitritt. Wie ist da die Position der NEOS? Müssen wir dieses Europa größer sehen als wir es jetzt haben im Sinne der EU? Was würde das bedeuten zum Beispiel für eine Ukraine oder die ganzen Länder Südosteuropas?
Matthias Strolz: Natürlich, der Balkan braucht eine klar europäische Perspektive, ansonsten werden die Länder abgleiten und sich anderen Mächten zuwenden, was wir uns nicht wünschen. Sie würden sich stärker zuwenden einem Russland unter Putin, stärker zuwenden dem arabischen Raum, der mit Moscheefinanzierungen und anderen Dingen fragwürdige Entwicklungen anstößt. Sie würden sich stärker zuwenden einer Türkei und anderen autoritären Stimmen und zunehmend autoritären Regimen. Das kann keiner von uns wollen. Gleichzeitig sage ich, jetzt von neuen unmittelbar bevorstehenden Mitgliedern zu reden, das würde die Europäische Union überfordern, weil wir mit den Hausaufgaben intern noch nicht fertig sind. Wir müssen schon eines nach dem anderen machen und gleichzeitig die Dinge parallel. Wir haben es verabsäumt, mehr Ehrlichkeit gegenüber der Türkei zu signalisieren. Die Türkei ist ein immens wichtiger Nachbar. Wir haben nichts davon – außer Nachteile –, wenn da sowas wie ein fragwürdiger Gottesstaat oder sonst was entsteht. Und die Türkei ist in diese Richtung unterwegs, auch wenn der Gott möglicherweise ein irdischer ist. Das hätte anders gehen können, wenn wir die Weichen als Europa anders gestellt hätten. Dasselbe Problem haben wir bei der Ukraine. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die Ukraine eine proeuropäische Perspektive braucht. Aber nicht in Abgrenzung zu Russland. Da hätte Europa mehr Sensorium gebraucht, und einen EU-Außenminister, nicht 28 EU-Außenminister, die sagen, zum Glück bin ich nicht zuständig. Deshalb ist das so eskaliert wie es eskaliert ist. NEOS ist seit Jahren klar für eine europäische Armee. Wir wurden bei den Europawahlen dafür mit Häme übergossen und ausgelacht. Mittlerweile ist in der EU-Kommission ein Großteil dafür, Staatschefs von Merkel abwärts sind der Meinung wir brauchen so etwas.
PÖ: „Supermacht Europa“ war der Titel eines Buches von Coudenhove-Kalergi, allerdings war nicht gedacht, dass diese Supermacht dann im Rest der Welt einmarschiert.
Matthias Strolz: Nein. Es soll eine Friedensarmee sein, unter Kontrolle des Europäischen Parlaments. Also ich habe nicht überall die Detaillösungen. Aber ich habe eine ganz klare Stoßrichtung. Dass wir militärische Kapazität brauchen, ist völlig außer Streit.
PÖ: Wir hatten in diesem Jahr schon Wahlen in einigen europäischen Ländern, einige weitere Wahlen werden wir noch haben. Welche Schlüsse können wir aus den bisherigen Ergebnissen ziehen, was lernen wir daraus für die Zukunft Europas?
Matthias Strolz: Dass Europa wieder in ist, dass man mit Europa und einer proeuropäischen Ansage Wahlen gewinnen kann. Das ist ein Halleluja der anderen Art. Das begrüße ich, das gibt Kraft und das schafft Rückenwind, auch für unsere Bewegung.
PÖ: Noch ein ganz anderes Thema. Wir sehen eine ungeheure Begehrlichkeit des Staates, immer mehr Informationen über die Bürger zu bekommen. Wir haben diesen Vorschlag für ein neues Einreisesystem in die Europäische Union, wir haben in Österreich ein Gesetz – ich weiß jetzt gar nicht, ob das bereits durch ist –, das de facto schon die Gesinnung unter Strafe stellt. Wir haben in Deutschland ein neues Gesetz zur Überwachung der sozialen Medien, und man redet bereits darüber auch WhatsApp kontrollieren können zu wollen. Also irgendwann haben wir keine Privatsphäre mehr. Irgendwann haben wir nur mehr den gläsernen Bürger und der Staat kontrolliert alles. Das kann doch nicht die Zukunft Europas sein?
Gläserner Staat statt gläserner Bürger
Matthias Strolz: Nein, sondern genau umgekehrt: gläserner Staat statt gläserner Bürger. Dass wir für die Sicherheitspolitik immer wieder ein Nachschärfen der Gesetzgebung und der Maßnahmen brauchen, steht völlig außer Streit. NEOS haben ein klares Bekenntnis: Wir sind der Anwalt für Freiheits- und Bürgerrechte in diesem Hohen Haus hier am Ring, im österreichischen Parlament. Wir sind es auch auf europäischer Ebene. Ob das die Vorratsdatenspeicherung ist, die wir massiv mitbekämpft haben, und sie ist gefallen in Österreich. Ob wir als Fünf-Prozent-Bewegung durchgesetzt haben, dass die Kontoregistereinschau nicht kommen darf, ohne richterlichen Beschluss. Das haben wir als kleine Kraft durchgesetzt. Wir können die Freiheits- und Bürgerrechtsbewegung im österreichischen Parlament, die den Namen NEOS trägt, stärken. Wir sind der Anwalt der Freiheits- und Bürgerrechte. Wir sind hier kompromisslos, wenn es um diese Rechte geht. Auch jetzt wieder im Kampf gegen die Vorratsdatenspeicherung, die durch die Hintertür reinkommt. Wir haben gekämpft beim Staatssicherheitsgesetz, da haben wir einige Giftzähne gezogen. Einige sind noch drinnen: dass zum Beispiel Verbindungsleute auch Kriminelle sein können. Das halten wir für falsch. Wir brauchen natürlich im Kampf gegen den Terrorismus zum Beispiel immer wieder auch Nachschärfungen. Wir sind ganz klar und entschlossen für eine Zusammenarbeit der Geheimdienste in Europa. Wenn nur sieben EU-Staaten in die Dschihadisten-Datenbank einberichten, während die Dschihadisten aus 77 Staaten kommen, dann ist das grob fahrlässig, lächerlich, und führt zu Toten auf diesem Kontinent, die vermeidbar gewesen wären. Wenn wir es zulassen, dass selbst bei den Zuwanderern Leute sind mit zehnfachen Identitäten, dann ist das ist eine Zumutung. Das ist eine gnadenlose Verantwortungslosigkeit, die man abstellen muss. Deswegen sind wir hier klar für den Fingerprint, für die biometrischen Daten. Wir müssen doch im Jahr 2017 gewährleisten können – und das ist auch jedem Asylwerber zumutbar –, dass wir die Identitätserhebung so machen, dass sie an jedem Ort Europas jederzeit nachvollziehbar ist.
PÖ: Zur letzten Frage, wobei die letzte Frage ist eigentlich keine Frage, sondern eine Bitte um Kommentierung zu einem Zitat von Richard Coudenhove-Kalergi aus seiner Rede über die Seele Europas: „Das europäische Ideal ist Freiheit, die europäische Geschichte ein einziges langsames Ringen um persönliche, geistige, nationale und soziale Freiheit. Europa wird bestehen so lange es diesen Kampf fortsetzt, sobald es dieses Ideal freigibt und seiner Mission untreu wird, verliert es seine Seele, seinen Sinn, sein Dasein, dann hat es seine historische Rolle ausgespielt.“
Matthias Strolz: Das könnte der Refrain der NEOS-Hymne sein. Europa ist der Leuchtturm der Freiheit auf diesem Planeten. Und wenn wir diesen höchsten Wert nicht mehr ehren und verteidigen, dann werden wir nicht mehr leuchten, und dann wird es dunkel auf diesem Planeten. Wir tragen eben die Strahlkraft Europas nicht mehr mit dem Schwert und mit Kanonen in die Welt, aber mit einer Haltung. Das schafft sonst niemand auf diesem Planeten, und deswegen ist das nicht nur unser Vermächtnis, sondern auch unser Auftrag für die nächsten Jahrzehnte.
PÖ: Danke für das Gespräch.
Fotos: Paneuropabewegung, NEOS