Das Argument der Nationalpolitiker im Zuge der Corona-Pandemie, die EU hätte versagt, hält nach einer Enthüllung des Nachrichtendiensts Reuters nicht. Es gab bereits Ende Jänner einen Notfallplan, der von nahezu allen Regierungen abgelehnt worden ist. Eine grobe Fahrlässigkeit, sagt Charles Steiner.
Folgendes bildliches Szenario: Dunkle Wolken liegen über Europa. Die EU-Kommission sieht sie und warnt die Mitgliedsstaaten, dass es regnen würde und bietet an, die Mitgliedsstaaten koordiniert mit Regenschirmen zu versorgen. Die meisten Nationalregierungen – unter ihnen Österreich – lehnten ab, man habe genug Regenschirme. Und außerdem würde der Regen ohnehin weiterziehen. Nur vier befanden die Idee für gut. Eineinhalb Monate später regnete es, und zwar heftiger, als man in den Nationalregierungen dachte – und es gibt auch nicht genügend Regenschirme. Was machen die Nationalregierungen? Sie beklagen sich, dass die EU sie im Regen stehen lassen würde.
Die Realität ist weitaus schlimmer. Was über Europa hereingebrochen ist, ist kein Unwetter, sondern ein Virus, das bereits Tausende dahingerafft hat. Und es waren auch keine Regenschirme, die die EU-Kommission Ende Jänner angeboten hatte, sondern Testkits, Masken, Schutzausrüstungen. Dinge, die man jetzt bitter notwendig hat, vor allem in Italien, Frankreich und Spanien, wo die Menschen eben zu Tausenden elendiglich krepieren. Längst haben die Toten keine Namen mehr, Ärzte und Pfleger arbeiten ununterbrochen, können das Sterben aber nicht verhindern. Eilig versuchten die Nationalregierungen Mitte März die Schotten dicht zu machen, freilich ohne Koordination. Medizinisches Material muss teuer auf dem Weltmarkt gekauft werden, wenn man denn welches kriegt, nachdem die USA bereits mit Koffern voller Geld dieses Material noch vom Rollfeld aus abfangen. Doch anstatt, dass die Nationalregierungen selbst die Verantwortungen für ihr Versagen übernehmen, wälzt man die Schuld lieber an die EU ab. Wir mussten über die Nachrichtenagentur Reuters erfahren, die entsprechende Sitzungsprotokolle aus Brüssel veröffentlicht hat, dass das schlicht und einfach nicht stimmt.
In den Wind geschlagen
Ein Beispiel unter vielen ist Österreich. Medienwirksam beklagt Kanzler Sebastian Kurz, dass es nicht sein könne, dass man zwei Wochen auf sich allein kämpfen müsse und sich die EU diese Kritik nach der Krise gefallen lassen müsse. Doch das ist, wie wir durch Reuters erfahren mussten, nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist vielmehr: Bei dieser Krise handelt es sich um ein Multiorganversagen und auch die österreichische Regierung unter dem fast schon messianisch auftretenden Kanzler, ist Teil dieses Versagens. Während Ende Februar das Coronavirus in Norditalien bereits heftig zu toben angefangen hatte, schien in Österreich alles eitel Wonne. Die Skilifte brachten tausende Touristen auf die Tiroler Berge, in den Tälern feierte man in Apres-Ski-Hütten sein Dasein. Obwohl bereits Anfang März Corona-Fälle in Tirol aufgetaucht waren, schlug man die Warnungen in den Wind. Ebenso, als bereits Dutzende Corona-Fälle bei Tirol-Urlaubern in Island und Norwegen registriert worden waren, hieß es, die hätten sich im Flugzeug angesteckt. Es hat wertvolle zwei Wochen gedauert, bis unsere Regierung reagiert hatte – und das auch nur, weil Norwegen Alarm bei der Europäischen Gesundheitsbehörde geschlagen hatte und Island bereits Reisewarnungen ausgesprochen hatte. Bis dahin konnte sich der Virus ungehemmt weiterverbreiten. Jetzt ist dafür das öffentliche Leben in Österreich – wie in ganz Europa – komplett zum Erliegen gekommen, der wirtschaftliche Schaden beträgt jetzt Zig-Milliarden und in Österreich ist die Arbeitslosenquote mittlerweile höher als zuletzt 1946.
Gravierende Fehler
Man hätte meinen können, aus Schaden wird man klug. Doch Österreich hat gleich weitere gravierende Fehler begangen. Zunächst wurde das Epidemiegesetz von 1950 eiligst durch das Covid-19-Gesetz ersetzt, wohl mit dem Hintergedanken, nicht allen Unternehmen, die dadurch in ärgste Bedrängnis gekommen sind, den Schaden ersetzen zu müssen. Dafür wurde ein Hilfsfonds aufgelegt, der über die Wirtschaftskammer abgewickelt wird, was von zahlreichen Rechtsexperten als verfassungswidrig angesehen wird. Hauptsache, man kann damit prahlen, wieviele Milliarden für die darbende Wirtschaft kurzfristig lockergemacht werden könnten – ohne natürlich zu verraten, wer sie denn bezahlen müsse. Gemeinsames Vorgehen mit den anderen europäischen Partnern? Nein. Die sogenannten „Corona-Bonds“ werden explizit abgelehnt, eine Alternative nur über den ESM angeboten. Für Italien und Spanien, die ohnehin schon wirtschaftlich zuvor in gröbere Turbulenzen geraten sind, ein Dolchstoß. Und ein Bumerang, der uns letztendlich auch treffen wird. Ein Land, dessen Wirtschaft zu größtem Teil aus dem Dienstleistungssektor besteht und dessen Exportgüter beschränkt sind, wird sich mit diesem Alleingang ins eigene Fleisch schneiden. Man mag über Für und Wider dieses Anleiheprogramms zwar streiten, der ESM scheint allerdings nicht das passende Mittel für die Krise zu sein, nachdem dieser lediglich bei einzelnen Ländern bisher zu tragen gekommen ist, nicht für die gesamte Union selbst. Denn ob im Angesicht dieser Krise ein Stabilitätsmechanismus, der eigentlich den Schutz des Euro vor Schwankungen durch haushaltsmarode Staaten als vorrangiges Ziel hat, greifen kann, wird von zahlreichen Ökonomen bestritten. Vor allem deshalb, weil die globalen Finanzmärkte eingebrochen sind.
Grauzonen
Generell werden Gesetze, Erlässe und Verordnungen im Tagesrhythmus verabschiedet, die nicht nur zum Teil der österreichischen Verfassung widersprechen, sondern mehr rechtliche Grauzonen aufreißen als sie zu schließen gedenken. Es mag für so manchen Wohnungsmieter super klingen, wenn unsere Justizministerin Alma Zadic erklärt, Mieten für in Zahlungsschwierigkeiten geratene Mieter würden gestundet werden. Allerdings nur bis Dezember und das mit Verzugszinsen. Wenn das allerdings auf die steigende Arbeitslosenrate und fehlende Einnahmen trifft, ist das nur eine Verlagerung des Problems, das für die Betroffenen mit Jahresende mit voller Wucht auf sie treffen wird. Jede Menge Mietschulden samt Zinsen und keine Möglichkeit, sie jemals abzubezahlen. Auf die Idee einer Subjektförderung für diese Menschen kommt man natürlich nicht. Allein das wird noch zu einem bösen Erwachen führen, wenn die Pandemie eingedämmt ist.
Doch nicht nur das: Mittlerweile greift die Regierung noch weiter in die Persönlichkeitsrechte ein, sei es durch eine verpflichtende App oder Auswertung von Handydaten. Es ist fraglich ob der fehlenden Rechtspflege, die durch den Lockdown der Gerichte resultiert, dass diese Maßnahmen auch zurückgenommen werden. Zu verlockend ist die Möglichkeit zur totalen Kontrolle und totalen Macht. Das Gros der Bevölkerung wird jetzt noch über die Maßnahmen klatschen, doch je länger diese Krise dauert und je mehr Menschen arbeitslos werden und je mehr sich der Unmut über die Situation regt, desto eher wird der Beifall verstummen. Was übrig bleibt, sind dann immer noch Überwachungsmaßnahmen, allen Beschwichtigungsversuchen zum Trotz.
Dass man damit womöglich über das eigene Versagen Ende Jänner mit dem Ablehnen eines koordinierten Vorgehens zur Beschaffung von medizinischem Material hinwegtäuschen möchte, hat anscheinend noch niemand erkannt oder erkennen wollen. Für die Europäische Idee ist das jetzt bereits mehr als fatal, vor allem, wenn der Kanzler die Verantwortung – wie immer, wenn es um populistische Maßnahmen geht – an die EU abwälzt, die ohne Legitimation durch die Nationalstaaten gar nicht tätig werden kann. Es hätte die Krise wesentlich anders ausgesehen, wenn die Nationalregierungen Ende Jänner die Warnungen nicht in den Wind geschlagen hätten und man das Problem gemeinsam angegangen wäre. Es war nicht die EU, die uns im Regen stehen hat lassen, es waren die Nationalregierungen, die nicht nur die europäische Idee im Stich gelassen haben, sondern uns alle, jeden einzelnen, der in Europa lebt und arbeitet.
Die einzige Hoffnung ob der grob fahrlässigen Gefährdung der Allgemeinheit bleibt, dass das nach Abklingen der Pandemie schonungslos juristisch genau aufgeklärt wird. Nun gilt es, als aufrechter Staatsbürger noch wachsamer als bisher zu sein. Sonst finden wir uns in einem System wieder, das wir eigentlich gar nicht gewollt haben.