Immer wieder werden die Sanktionen gegen Russland kritisiert. Sie würden Europa mehr schaden als Russland. Eine Behauptung, die zwar falsch ist, von gewissen Kreisen aber mit Vehemenz vertreten wird. Unbestritten ist, dass Europa seine Sicherheitspolitik über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt hat. Eine solide Sicherheitspolitik aber ist notwendig, um Despoten nicht zu weiteren Vernichtungskriegen zu motivieren. Eine Bewertung von Rainhard Kloucek.
Sanktionen seien ein Schuss ins eigene Knie, oder wie es der putinfreundliche ungarische Regierungschef Viktor Orban ausdrückte, ein Schuss in die eigene Lunge, sie würden nur Europa schaden und gar nicht Russland treffen, die Mehrheit des Volkes wäre gegen die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, sie würden auch den Krieg nicht beenden, und überhaupt, niemand will für die Ukraine frieren. Es sind das Meldungen, die täglich aus politisch einschlägigen Kreisen von FPÖ bis AfD in Deutschland, von Sozialdemokraten und alten Kommunisten, von Impfgegnern die hinter jedem Geschehen eine von den USA orchestrierte Verschwörung sehen, von Österreichern, die meinen die Neutralität hätte uns vor allem Unbill geschützt, aber auch von Vertretern von Wirtschaftsorganisationen – Wirtschaftskammerchef Harald Mahrer sei hier in Erinnerung gerufen – kommen.
Als Argument für die Ablehnung der Sanktionen kommt dann meist der gestiegene Kurs des Rubels, die Preisinflation, die gestiegenen Energiekosten, die unfähige EU, überhaupt die unfähigen Politiker, und dass die USA der einzige Profiteur des Krieges Russlands gegen die Ukraine sind.
Personalproblem in der Politik
Tatsächlich könnte man bei einigen der vorgebrachten Argumente zustimmen. Der Kurs des Rubels ist gestiegen, der Wert des Euro ist gefallen, die Energiekosten steigen und die Preisinflation erreicht Höhen, wie wir sie seit 40 Jahren nicht gekannt haben. Dazu kommt eine Politik, die uns von russischen Gaslieferungen abhängig gemacht hat, meist mit dem Argument, dass Russland billiges Gas liefere und Russland ja selbst zu Sowjetzeiten immer ein verlässlicher Partner gewesen sei. Diese Abhängigkeit wurde noch erhöht, nachdem Putin die Gaswaffe bereits mehrmals gegen die Ukraine direkt und gegen Länder der Europäischen Union indirekt eingesetzt hatte. Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Genauso wurde in der Sicherheitspolitik in Europa ein Kurs gefahren, der alle militärischen Fähigkeiten einer Wehrhaftigkeit massiv reduzierte. Einerseits um so die Friedensdividende kassieren zu können und Geld in wohlfahrtsstaatliche Umverteilungsprogramme (Wählerkauf?) stecken zu können, andererseits weil man meinte, für Kriege hätte man eine Vorwarnzeit von zirka zehn Jahren. Doch schon bei der Annexion der Krim waren die Experten und Politiker überrascht. Reagiert hat man aber auf die russische Bedrohung noch immer nicht. Das Leben war ja bequem. Und auch wenn man jetzt nicht in die Stammtischstimmung „die Politiker sind ja alle unfähig“ einfallen will, wird man zugeben müssen, dass wir auf vielen politischen Ebenen in Europa ein Personalproblem in den Leitungsfunktionen haben.

Jean-Claude Juncker, Vladimir Putin, President of Russia, and Angela Merkel, German Federal Chancellor (from left to right). Zu lange hat die europäische Politik die imperialistischen Ambitionen von Vladimir Putin unterschätzt.
Mitgespielt in der Abneigung gegen die regierenden Politiker hat sicherlich auch die Corona-Politik. Hier wurden wohl manche Fehler gemacht, auch deshalb, weil man zu Beginn der Pandemie keine Erfahrung hatte und zu drastischen Maßnahmen gegriffen hat, die mittlerweile wieder fast alle zurückgenommen wurden. Die Kommunikation dazu war von deutlichem Verbesserungsbedarf gekennzeichnet. Geschickte Demagogen und Populisten haben natürlich versucht aus dieser Stimmung Kapital zu schlagen. Die Parallele zwischen Impfgegnern und Verharmlosern des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine zeigte eine jüngst im Profil veröffentlichte Studie. Demnach sieht eine Mehrheit der Ungeimpften die Schuld an diesem Krieg nicht beim Aggressor Russland, sondern bei den USA, der Nato und Europa.
Aber sind nun die Sanktionen wirklich der Schuss ins eigene Knie? Können sie den Krieg beenden oder helfen den Krieg zu beenden? Dazu muss man einige Dinge sorgfältig auseinanderhalten und auch klar definieren, was mit welchen Maßnahmen erreicht werden sollte.
Können Wirtschaftssanktionen den Krieg beenden?
Klar ist: mit Wirtschaftssanktionen wird man einen Krieg nicht beenden. Genauso klar ist, dass Wirtschaftssanktionen auf beiden Seiten negative Auswirkungen haben. Das ist auch logisch. Wenn man ein Geschäft macht, dann weil man davon einen Vorteil hat. Das gilt für beide Seiten. Ohne Vorteil würde man das Geschäft nicht machen. Fällt dieses Geschäft weg, so verlieren beide Seiten etwas.
Diesem Grundsatz liegt auch die Politik eines Wandels durch Handel zugrunde. Durch einen stetig steigenden Handel sollte es zu einer Steigerung des Vertrauensverhältnisses zwischen der damals noch existierenden Sowjetunion und dem Westen kommen. Diese Politik wurde von den Sozialdemokraten vertreten, die auch starke Kräfte in den eigenen Reihen hatten, die im real existierenden Sozialismus das Ziel ihrer Politik sahen (noch immer sehen), und von den bürgerlichen Parteien skeptisch betrachtet und sogar ursprünglich bekämpft. Durchgesetzt hat sich diese Politik. Im Rückblick betrachtet hatte diese Politik auch ihre Erfolge. Die Sowjetunion erwies sich als zuverlässiger Lieferant von Rohstoffen, auch wenn sie bis zu ihrem Ende ein totalitärer Staat blieb.
Die UdSSR unterzeichnete 1975 im Rahmen der Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KSZE (heute OSZE) die Schlussakte von Helsinki, in der festgehalten wurde: „Sie (die unterzeichnenden Staaten, Anmerkung) werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen. Im Rahmen des Völkerrechts haben alle Teilnehmerstaaten gleiche Rechte und Pflichten. Sie werden das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, seine Beziehungen zu anderen Staaten im Einklang mit dem Völkerrecht und im Geiste der vorliegenden Erklärung zu bestimmen und zu gestalten, wie er es wünscht. Sie sind der Auffassung, dass ihre Grenzen, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht, durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung verändert werden können. Sie haben ebenfalls das Recht, internationalen Organisationen anzugehören oder nicht anzugehören, Vertragspartei bilateraler oder multilateraler Verträge zu sein oder nicht zu sein, einschließlich des Rechtes, Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein; desgleichen haben sie das Recht auf Neutralität.“
Die damit bereits vereinbarte Bündnisfreiheit wurde dann im November 1990 in der „Charta von Paris für ein neues Europa“ nochmals festgeschrieben. Russland als Nachfolgestaat der UdSSR bestätigte später diese Vereinbarungen.
Wandel durch Handel und die Interdependenztheorie
Die Politik des Wandels durch Handel beruht auch auf der sogenannten Interdependenztheorie. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Staaten durch gegenseitige Abhängigkeiten (Interdependenzen) so in ein Geflecht von Verträgen eingebunden werden, dass erstens alle Seiten einen Nutzen davon haben und zweitens ein Krieg dieser Staaten gegeneinander nicht mehr möglich sein würde. Eines der Fundamente dieser Interdependenztheorie ist allerdings eine rationale Handlungsweise der politischen Akteure. Krieg ist teuer und zerstört wohlstandsteigernde Handelsbeziehungen. Wer also rational (vernünftig) agiert, treibt lieber Handel mit seinem Nachbarn, als ihm den Schädel einzuschlagen. Denn mit dem toten Nachbarn kann man keinen Handel mehr treiben.

Die Ukrainer haben sich klar für den europäischen Weg entschieden. Sie wollen die Unterdrückung durch Moskau endgültig abschütteln.
Diese rationale Handlungsweise konnte offensichtlich bei der totalitären UdSSR angenommen werden, auf die Herrschaft des Vladimir Putin trifft sie nicht mehr zu. Die Macht in der UdSSR beruhte auf den drei Säulen Partei, KGB und Rote Armee. Es war eine Machtbalance, in der der Ausfall einer rational handelnden Säule durch die anderen Säulen abgefangen werden sollte. Putins Russland hingegen beruht auf einer Fusion des in FSB umbenannten KGB mit der organisierten Kriminalität. Russland ist heute ein Mafiastaat, in dem der alte KGB-Offizier und spätere FSB-Chef Vladimir Putin gleichzeitig der Chef aller Oligarchen ist, die ihm Tribut zahlen müssen. Die Handlungsweise dieses Systems folgt der Logik und Rationalität von Verbrecherorganisationen: Gewalt zur Ausdehnung der eigenen Macht. Im Sinne Lenins ist für Putin das Gas der Strick, mit dem er die Kapitalisten aufhängen wird, die ihm den Strick zuvor verkauft haben. Sind die Staaten Europas erst einmal abhängig vom russischen Gas, und die wohlfahrtsstaatsverwöhnten Bürger erst einmal an den billigen Rohstoff gewohnt, werden sie die Rohstoffförderung im eigenen Land torpedieren. Tatsächlich wurde in Ländern wie Deutschland und Österreich auf die eigene Förderung von Gas mit fadenscheinigen Argumenten und speziellen wirtschaftlichen Interessen verzichtet. Es gibt Hinweise, dass diese Gruppen durch Russland unterstützt wurden. Putin hat mit dem Gashahn eine extrem effiziente Waffe in der Hand, um mit jedem Dreh an diesem Ventil Angst und Schrecken in Europa vor einem kalten Winter zu verbreiten. Der Begriff Gaskrieg hat eine völlig neue Bedeutung.
Die Frage der Wirkungsweise von Wirtschaftssanktionen hat die Paneuropabewegung Österreich bereits im April 2015 – im Jahr davor hat die EU bereits einige Sanktionen gegen Russland beschlossen, als Reaktion auf die Annexion der Krim – im „IV. Otto von Habsburg Symposion“ behandelt. Norbert F. Tofall vom Flossbach von Storch Research Institute präsentierte damals Studien, die klar zeigen, dass Wirtschaftssanktionen nicht dazu geeignet sind, politische Ziele zu erreichen. Was nicht bedeutet, dass Sanktionen nur der eigenen Seite schaden. Sehr wohl zeigen sie auch Wirkung beim mit Sanktionen belegten Staat. Politische Ziele aber müssen mit politischen Mitteln verfolgt werden, sicherheitspolitische Ziele mit sicherheitspolitischen Mitteln. (Siehe dazu auch die beiden Artikel von Norbert F. Tofall in „Paneuropa“ 03/2015.)
Boykott von Rohstofflieferungen
Von den Gegnern der Sanktionen gegen Russland wird meist argumentiert, dass diese Sanktionen nur gegen Europa wirken. Das ist eindeutig falsch. Verbunden damit ist die Annahme, wonach das Spiel Putins mit dem Gashahn eine direkte Folge der Sanktionen gegen sein Regime seien. Politisch weitblickende Analysten wie der Präsident der Paneuropabewegung Österreich Karl von Habsburg, hatten bereits in den ersten Diskussionen zum russischen Überfall auf die Ukraine die Forderung aufgestellt, dass die EU nun mit einem Boykott russischer Rohstofflieferungen reagieren müsse. Der Export von Rohstoffen ist die Haupteinnahmequelle für Russland und damit auch die Haupteinnahmequelle zur Finanzierung des Krieges.
Dieser Forderung lag die Annahme zugrunde, dass Putin die Gaswaffe sowieso einsetzen werde. Europa müsse ihm durch schnelles Handeln zuvorkommen, vor allem auch mit dem Hintergrund, dass Putin von sich aus den Gashahn zudrehen – wenn auch nicht ganz – werde. Wer also schnell handelt und sich schnell abkoppelt, kommt auch schneller wieder aus dem Dilemma heraus. Doch schon beim viel einfacher zu vertretenden Boykott russischer Öllieferungen zeigte sich, dass einzelne Staaten wie Ungarn oder Griechenland blockieren und sich Umgehungsmöglichkeiten zusichern lassen. Hatten andere Länder des früheren Ostblocks längst Maßnahmen ergriffen um unabhängig von russischen Lieferungen zu werden, hatte die Regierung Orban die Abhängigkeit sukzessive ausgebaut.

Der erwartete Niedergang der russischen Wirtschaft ist massiv.
Putin hat damit die Gaswaffe in seiner Hand. Jede Drosselung der Lieferung lässt den Preis steigen. Russland kann also bei weniger Lieferung die gleichen, wenn nicht sogar höhere Einnahmen aus den Verkäufen nach Europa erzielen. Energieexperten gehen davon aus, dass Russland die Gaslieferungen nach Europa nicht zur Gänze einstellen wird, zumindest nicht kurzfristig. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Gasfelder, aus denen der Rohstoff für Europa gefördert wird, nicht an das Pipeline-Netz angebunden sind, das beispielsweise nach China liefert. Dazu muss die Infrastruktur erst gebaut werden, das dauert und das kostet. Ein zweiter Grund ist ein technischer. Einmal geschlossene Bohrlöcher können erst mit hohem Aufwand wieder geöffnet werden, das wäre also ein Schuss ins eigene Knie für Russland.
Russlands Abhängigkeit
Wie hoch auch die Abhängigkeit Russlands vom Exportmarkt für Gas nach Europa ist, zeigen Jeffrey Sonnenfeld und Steven Tian in einem Artikel für „Foreign Policy“ vom 22. Juli.
So haben die Pipelines nach Asien nur eine Kapazität von zehn Prozent der Kapazität der Pipelines nach Europa. 83 Prozent der Gasexporte Russlands gehen nach Europa, in Europa entspricht das einem Angebot von 46 Prozent. Laut Daten von Gazprom wurde die Gasproduktion in Russland bereits um 35 Prozent gesenkt. Das ist nur ein Beispiel für die negativen Auswirkungen des Krieges auf die russische Wirtschaft. Bei der Gasabhängigkeit muss auch ergänzt werden, dass die hohe Abhängigkeit, die etwa in Ungarn, Deutschland und auch Österreich besteht, nicht alle Länder betrifft.
Ein Problem, auf das Sonnenfeld und Tian in ihrem Artikel (der wiederum auf der Arbeit zahlreicher weiterer Experten und deren Datenanalysen beruht) hinweisen ist die Verfügbarkeit der Daten aus Russland und deren Glaubwürdigkeit. Die aus Russland gelieferten Daten seien eine „Rosinenpickerei“, die Daten seien unvollständig, selektiv, blenden unangenehme Fakten aus oder werden gar nicht mehr publiziert.
Beispielsweise spielt der Import von Waren eine wichtige Rolle für die russische Wirtschaft und macht etwa 20 Prozent des BIP aus. Dieser Import ist aber um mehr als 50 Prozent in den vergangenen Monaten eingebrochen. Und er wurde nicht, wie manche vermuten, gänzlich durch Importe aus China und anderen Ländern ersetzt. Dazu kommt eine Inflation zwischen 40 und 60 Prozent. Der Verkauf von westlichen Autos ist um 95 Prozent eingebrochen. Die beiden Autoren verweisen auf die drohende Arbeitslosigkeit durch den Rückzug westlicher Firmen und berichten von einem Exodus von einer halben Million Menschen, von denen die meisten aus der Schicht der gut qualifizierten Arbeitskräfte kommen. Die Geschichte vom hohen Budgetüberschuss durch gestiegene Energiepreise widerlegen die beiden Autoren, bei den Währungsreserven verweisen sie darauf, dass mittlerweile von den westlichen Ländern zirka 300 Milliarden Dollar eingefroren wurden, die später in den Wiederaufbau der Ukraine investiert werden sollen. Ihrer Analyse nach ist die russische Wirtschaft am Implodieren.
Der frühere stellvertretende Energieminister Russlands, Ökonom, Oppositionspolitiker, Berater von Alexander Navalny, der nun für das Martens Centre for European Studies in Brüssel tätig ist, schreibt, die Verheimlichung der Daten sei ein indirekter Beweis für die starken negativen Auswirkungen der Sanktionen auf Russland.
Inflation in Russland
Wie bei den Daten aus Russland getrickst wird, zeigt er anhand der Inflation auf. Offiziell soll sie im Mai bei 17 Prozent gelegen sein. Viele Berichte weisen aber eine deutlich höhere Preissteigerungsrate hin. Und die russische Zentralbank berichtet über eine beobachtete Inflation von über 25 Prozent. Die beobachtete Inflation wiederum ergibt sich aus Meinungsumfragen. Die Zentralbank hat laut Milov auch massive Interventionen durchgeführt, in einem Ausmaß, wie man sie seit Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht mehr gesehen hat. Damit könne man auch keinen echten Wert des Rubels mehr feststellen.
Abgesehen von jetzt schon feststellbaren kurzfristigen Effekten der Sanktionen, zählen für den Ökonomen die mittel- und langfristigen Effekte. Milov schreibt von der größten Deglobalisierung einer wichtigen Volkswirtschaft in der Geschichte. Russland werde von den internationalen Märkten abgeschnitten, vom Finanz- und Dienstleistungssektor, von der Technologie und der Logistik. Und selbst die offiziellen Zahlen von Rosstat zeigen Produktionsrückgänge in verschiedenen Industrien von 50 bis über 90 Prozent. Minus 60 Prozent beispielsweise bei Kühlschränken und Gefriergeräten.
Selbst die Regierung geht von einem Rückgang der Importe von 50 Prozent (im April) aus, andere Untersuchungen nehmen diesen Rückgang bei 70 bis 80 Prozent an. Im ersten Quartal des Jahres sind die Realeinkommen im Jahresvergleich um 1,2 Prozent gesunken. Diese Einkommensrückgänge steigen demnach, ebenso die Arbeitslosigkeit. Die nominale Stärkung des Rubels hingegen hat keine positiven Effekte auf die Wirtschaft.
Die langfristigen Folgen der Sanktionen
Vladimir Milov geht davon aus, dass die wirklich negativen Effekte auf die russische Wirtschaft noch kommen werden. Abgeschnitten von der westlichen Welt, so meint er, könne keine erfolgreiche Wirtschaft gebaut werden.
Auf die langfristigen Effekte der Sanktionen verweist auch Oleg Vjugin, früher stellvertretender Chef der Zentralbank und des Finanzministeriums in Moskau, nun in anderen Bereichen der russischen Wirtschaft tätig. Im Gespräch mit „Die Presse“ (28. Juli 2022), meint er, kurzfristig könnte es wohl so sein, dass Europa mehr leide. „Mittelfristig aber, mit Blick auf 2023 und 2024, leidet natürlich Russland mehr.“ Und er verweist auch auf die Gefährlichkeit des Einsatzes der Gaswaffe. Denn durch die Drosselung der vereinbarten Lieferungen würden sich andere Käufer abwenden, weil die Zuverlässigkeit fehlt. „Und das ist ein Verlust für die russische Wirtschaft.“
Nur für minderwertige Waren
Zu 40 Prozent hängt das russische Budget an den Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport. Diese Einnahmen werden in Zukunft noch wichtiger, weil die sonstigen Steuereinnahmen aufgrund des wirtschaftlichen Niederganges sinken. Einen Teil des Handels mit dem Westen könne Russland durch den Handel mit China, Indien, dem Iran oder eventuell auch der Türkei ersetzen, aber eben nicht alles, und vor allem, wie Vjugin betont, nur „für minderwertige Waren“. Dass man mit Sanktionen den Krieg beenden wird können, davon geht Oleg Vjugin nicht aus.
Eine Prognose über die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Russland kann man auf der Homepage des Europäischen Rates nachlesen, die wiederum auf Untersuchungen der Weltbank beruhen. Demnach wird der Import um 35 Prozent sinken, der Export um über 30 Prozent. Beim Bruttoinlandsprodukt wird für heuer von einem Rückgang um elf Prozent ausgegangen, es wird eine Inflationsrate von zirka 22 Prozent erwartet.
Ziel der EU-Sanktionen ist es nicht, die russische Gesellschaft direkt zu treffen, weshalb beispielsweise Nahrungsmittel oder Gesundheitsprodukte ausgenommen sind. Im Wesentlichen sind die Sanktionen darauf ausgerichtet, das Machtsystem von Vladimir Putin direkt zu treffen. Deshalb richten sich die Sanktionen gegen Bereiche, die beispielsweise die Kriegswirtschaft treffen sollen, also Embargos bei Hochtechnologieprodukten. Und es gibt eine Liste von Personen aus dem Machtapparat Putins, die direkt von den Sanktionen betroffen sind. Das geht von Einreiseverboten in die EU bis zum Einfrieren von Vermögenswerten in der EU. Die Europäische Kommission hat auf ihrer Homepage dazu Informationsmaterial zusammengestellt.
Problematisch an den Sanktionen ist ihre Löchrigkeit in einigen Bereichen. So wurde das Ölembargo mit vielen Ausnahmeregelungen von Ungarn bis zu griechischen Tankschiffen versehen. Gasimporte werden nicht von der EU verboten, hier spielt Putin mit der Angst vieler Europäer vor einem kalten Winter.
Preisinflation in der EU
Von den Sanktionen trennen muss man die gegebene Preisinflation. Auch wenn der Krieg und das Spiel mit dem Gas Auswirkungen auf die Preisentwicklung in einigen Bereichen hat, sind viele andere Faktoren Mitschuld an der hohen Preisinflation. Da sind die Probleme in den Lieferketten genauso zu nennen, wie etwa die Politik der Europäischen Zentralbank, die ihren gesetzlich festgeschriebenen Auftrag Schaffung von Währungsstabilität (Inflationsziel zirka zwei Prozent) längst zugunsten einer Finanzierung der Defizite der Staaten aufgegeben hat. Die Schuldenstände der einzelnen EU-Staaten sind aber nicht von „der EU“ verursacht, sondern von diesen Nationalstaaten, die längst darauf verzichtet haben, sich an die Stabilitätskriterien zu halten, die bei Einführung des Euro festgelegt wurden.
Sind die Sanktionen also tatsächlich der Schuss ins eigene Knie oder in die eigene Lunge, die nur den europäischen Ländern, nicht aber Russland schaden? Unbestreitbar schaden die Sanktionen auch der europäischen Wirtschaft. Sinnvoll ist auch eine Überprüfung, welche Sanktionen wirken und welche nicht, wo es Schlupflöcher gibt und wie man die schließen kann. Auch wenn die Datenlage vielfach mangelhaft ist, zeigen sich doch massive negative Auswirkungen auf Russland, die mit Dauer der Sanktionen zunehmen werden. Kann mit den Wirtschaftssanktionen der Krieg beendet werden? Die Frage muss eindeutig mit Nein beantwortet werden.
Sollte man also die gegebenen Sanktionen wieder aufheben und ganz einfach abwarten, wie der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ausgeht? Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man die Zielsetzung definiert. Will man die Ukraine der russischen Unterwerfung aussetzen, will man ohne weiteres zur Kenntnis nehmen, dass ein Despot sämtliche Regeln der internationalen Politik, alle auch von seinem Land eingegangenen internationalen Verpflichtungen ignoriert, dann kann man für ein Ende der Sanktionen plädieren und sich der Illusion hingeben, dass man es weiterhin warm haben wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass Putin nach einer schnellen Eroberung der Ukraine (weil man sie nicht weiter unterstützt und nicht auf Putins Imperialismus reagiert) sich wieder zufrieden in den Kreml zurückzieht ist allerdings deutlich geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass er dann Appetit auf mehr bekommt, also den Krieg weiter Richtung Westen vorantreibt. Keine Reaktion auf Putins Verbrechen würde auch jeden Despoten im Rest der Welt ermutigen, es ihm nachzumachen. Es wäre eine Einladung an China mit dem Krieg gegen Taiwan zu beginnen.
Mit einem Kriegsverbrecher kann man keine Geschäfte machen
Wenn aber die Sanktionen den Krieg nicht beenden können, und der Westen doch angeblich Frieden will, warum sind dann die Sanktionen notwendig? Weil man mit einem Kriegsverbrecher wie Putin keine Geschäfte macht und ihm durch Geschäfte nicht weiterhin seine Kriegskasse füllt. Eine Politik des business as usual wäre die Einladung an Putin und alle anderen Despoten, ihren imperialistischen Fantasien freien Lauf zu lassen. Es wäre dies das Ende der freien Welt wie wir sie kennen, ein Ende des zivilisierten Umgangs zwischen Staaten, ein Ende der internationalen Verträge und eine Durchsetzung des Rechts des Stärkeren. Mit all den leidvollen Folgen die uns die Geschichte zeigt.

Bei einer Aktion mit leeren Kinderwagen sollte darauf hingewiesen werden, dass der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine bisher hunderte Kinder ermordet hat.
Dass Putin den Krieg losgetreten hat ist wohl auch eine Folge der schwachen Reaktionen des Westens nach seinem Krieg gegen Georgien 2008, die Annexion der Krim und den Beginn des Krieges im Donbas 2014. Europa konnte damals so wie heute nur mit Sanktionen reagieren (damals noch dazu mit viel zu schwachen), weil Europa seine Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahrzehnten seit Ende des Eisernen Vorhanges gemeingefährlich vernachlässigt hat. Wenn die militärische Unterstützung der Ukraine aus den meisten EU-Ländern nur zögerlich erfolgt, dann ist das nicht nur eine Folge der politischen Schwäche des Führungspersonals, sondern auch ein Beleg für die Unfähigkeit sich bei einem Angriff selbst verteidigen zu können.
Österreich ist hier wohl ein negatives Extrembeispiel. Und auch wenn es nach dem 24. Februar viele Ankündigungen gab, dass nun das Bundesheer mit neuem Gerät ausgestattet werden soll, dass das Wehrbudget erhöht werden soll, so ist diesen Ankündigungen noch keine Maßnahme gefolgt. Es gibt bisher keinen Beschluss zur Erhöhung des Verteidigungsbudgets. Der einzige Antrag, der in einer entsprechenden Sitzung des Nationalrates angenommen wurde war eine Erklärung, wonach Kasernen mit Solarflächen ausgestattet werden sollen.
Aus der gegebenen Faktenlage muss man also zum Schluss kommen, dass die Sanktionen zwar nicht den Krieg beenden, allerdings eine notwendige Reaktion auf die Verbrechen des Putin-Regimes sind. Beenden wird den Krieg nur eine starke Ukraine, die Putins Eroberungsplänen einen Riegel vorschiebt. Dazu muss der Westen die Ukraine weiter und noch intensiver mit militärischer Ausrüstung unterstützen. Insbesondere Europa muss aber in die eigene Sicherheit und Sicherheitspolitik investieren.
c Beitragsbilder: Europäische Union 2022 Peter Kohalmi, Europäische Union 2014 Genya Savilov, Europäische Union 2015 Johanna Leguerre, Europäische Union 2022 Francesco Malavolta.