Der Parlamentarismus scheint in Europa auf dem Rückzug. Die Verursacher dieser Entwicklung sind meist die Parlamentarier selber. Die Idee eines Spitzenkandidaten bei der Europawahl, der dann Präsident der Kommission werden soll, ist nur eines von mehreren Beispielen für die Selbstfesselung der Parteien. Von Rainhard Kloucek, Generalsekretär der Paneuropabewegung Österreich.
No Taxation without Representation. Keine Besteuerung ohne Vertretung. Das war einer der Schlachtrufe in der Frühzeit der parlamentarischen Vertretung der Bürger. Die Macht der Herrscher sollte durch die Parlamente beschränkt werden. Dem Hang der Regierungen, den Bürgern immer mehr und höhere Besteuerungen abzupressen, sollte durch die Macht der Volksvertreter ein Riegel vorgeschoben werden. Man bedenke, dies war zu einer Zeit, als der Zehent noch als brutale Ausbeutung gesehen wurde, und die Besteuerungsquote irgendwo weit unter zehn Prozent lag. Heute liegt diese Messlatte in den Ländern Europas – sieht man von Ausnahmen wie der Schweiz oder Liechtenstein ab – deutlich über 40 Prozent, oft auch über 50 Prozent, und für jenen Teil der Bevölkerung, der tatsächlich noch netto in das System einzahlt, bereits bei zirka 80 Prozent oder gar darüber.
Parlamente waren einst Kontrollorgane
Parlamente waren als Kontrollorgan entstanden. Sie sollten die Regierung kontrollieren. Den Parlamenten gegenüber stand der Herrscher, normalerweise ein König, der seine Regierung ernannte. In den Parlamenten bildeten sich Fraktionen, der König und seine Regierung waren aber nicht an diese Fraktionen gebunden. Ins britische Parlament, der Mutter der europäischen Parlamente, wurden nicht Parteien gewählt, sondern Kandidaten in ihren Wahlkreisen (die selbstverständlich auch Parteien oder Fraktionen angehören durften). Dazu verfügt das britische Parlament über ein Oberhaus, das unabhängig von der Tagespolitik agiert und damit ein Schutzschild gegen Anlassgesetzgebung ist.
Wer ernennt die Regierung?
Die USA, die sich bewusst von der monarchischen Tradition lösten, schufen statt der Position des Monarchen die Position des Präsidenten. Der wird aber unabhängig von den Parlamentswahlen direkt durch das Volk gewählt. Die theoretische Kontrollfunktion von Senat und Repräsentantenhaus als Vertretung der Bürger und der Staaten ist damit gegeben. Die Macht der Parteien ist in den USA auch geringer als in Europa.
Der Siegeszug des Parteienstaates
In Europa brachte das Ende des Ersten Weltkrieges mit dem Zusammenbruch der Reiche und der Entstehung sogenannter Nationalstaaten den großen Umbruch. Es war der Beginn der Herrschaft der Parteien. Sie wurden die neuen Machthaber in den Parlamenten und in den Regierungen. Die Bürger entsandten nicht mehr Kontrollore der Regierung in das Parlament, sondern Parteien, die dann je nach Ausgang der Wahlen die Regierung bildeten, ausgestattet mit einer Parlamentsmehrheit der gleichen Partei oder der gleichen Parteienkoalition. Auch wenn der Begriff Gleichschaltung von Parlamentsmehrheit und Regierung vielen als hart erscheint, trifft er doch die Realität des politischen Alltags in den meisten Ländern Europas. Auch in Frankreich, wo der Präsident direkt gewählt wird und seine Regierung zusammensetzt, ist dieser Gleichklang von Präsident (als Kandidat einer Partei) und Parlamentsmehrheit die Regel, auch wenn es Situationen gab, in denen die Partei des Präsidenten im Parlament über keine Mehrheit verfügte. Was die aktuelle Situation in Frankreich, wo der jetzige Präsident eine neue Bewegung schuf, die ihn in den Elysee-Palast und seine neue Bewegung mit einer Mehrheit ins Parlament brachte, für Auswirkungen haben wird, bleibt zu beobachten.
Parlamentarismus ist vergessen worden
Für die meisten Menschen hat diese Realverfassung die ursprüngliche Idee des Parlamentarismus komplett in Vergessenheit geraten lassen. Sie wissen nicht mehr, dass sie beispielsweise in Österreich bei einer Nationalratswahl genaugenommen ihre Vertretung im Parlament wählen, sondern glauben, auf diese Weise die Regierung oder gar den Kanzler zu wählen. Selbst das Instrument der Vorzugsstimmen hat dieses Bewusstsein nicht korrigiert, sondern den Glauben an eine direkte Wahl der Regierung gestärkt. Unbestreitbar ist dies im Interesse der Parteistrategen, auch wenn sich siegreiche Parteien mittlerweile Bewegung nennen.
Spitzenkandidat nimmt die Wahl nicht an
Der Spitzenkandidat erhebt den Anspruch auf die Position des Kanzlers. Er kandidiert an erster Stelle auf der Liste und organisiert mit seiner Partei oder Bewegung eine Vorzugsstimmenkampagne, die normalerweise dazu führt, dass der Spitzenkandidat die meisten Vorzugsstimmen in seiner Partei erhält. Rein formal statten also die Wähler einen Kandidaten oder eine Kandidatin mit großem Vertrauen aus, um sie im Parlament zu vertreten (denn nur die Zusammensetzung des Parlaments wird bei einer Nationalratswahl gewählt), de facto aber nimmt dann der Spitzenkandidat der siegreichen Partei die Wahl gar nicht an, sondern wechselt an die Spitze der Regierung.
Landeshauptmann wird nicht direkt gewählt
Diese Praxis treibt die lustigsten Blüten, die aber von den meisten Bürgern gar nicht mehr wahrgenommen werden. So behauptete bei der Landtagswahl in Niederösterreich tatsächlich eine Partei, man könne die Landeshauptfrau direkt wählen. Rein sprachlich war das ein genialer Schachzug, da man der sprachlichen Bedeutung nicht widersprechen konnte. Die damit erzeugte politische Illusion einer Direktwahl des Landeshauptmannes – oder im konkreten Fall der Landeshauptfrau – aber war eine Irreführung der Wähler. Richtig war, dass die amtierende Landeshauptfrau als Spitzenkandidatin ihrer Partei auf der Landesliste kandidierte. Damit konnte man sie mit einer Vorzugsstimme auch direkt wählen, und zwar für den Landtag, also nicht für die Funktion der Landeshauptfrau.
Was nun seit Jahrzehnten geübte Praxis bei nationalen Wahlen ist, wurde im Jahr 2014 erstmals auch auf europäischer Ebene praktiziert: ein Spitzenkandidat bei der Europawahl. 2019 soll bei der Europawahl diese Praxis wiederholt werden. Der Spitzenkandidat der siegreichen Partei soll Präsident der EU-Kommission werden. Der amtierende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bekam diese Position, weil seine Fraktion, die Europäische Volkspartei EVP, die meisten Stimmen bei der Wahl 2014 bekam.
Ein Spitzenkandidat der gar nicht kandidiert
Diese Praxis ist auf Ebene der EU noch viel gefährlicher als auf Ebene der Nationalstaaten. Es gibt nämlich keine europaweite Liste. Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments wird aufgrund von Wahlen, die in den Wahlkreisen der Mitgliedsländer durchgeführt werden, bestimmt. Ein Spitzenkandidat kann also nur in einem Land gewählt werden. 2014 trat der Spitzenkandidat der Sozialisten, Martin Schulz, in Deutschland an, da er Deutscher ist. Der Luxemburger Jean-Claude-Juncker von der EVP stand überhaupt nicht auf der Liste, auch nicht in seinem Heimatland. Er hat in Wirklichkeit – obwohl er Spitzenkandidat war – also gar nicht kandidiert. Damit zeigt sich ganz offensichtlich, dass es im konkreten Fall nur um die Positionsbesetzung durch Parteien ging, nicht um eine möglichst breite Zustimmung durch die Bevölkerung.
Dazu kommt ein weiteres gewichtiges Argument, nämlich das Institutionengefüge innerhalb der EU-Institutionen, und die Zusammenarbeit zwischen diesen Institutionen. Nach den geltenden Verträgen, also nach geltendem Recht, wird der Kommissionspräsident von den Regierungen vorgeschlagen. Das Europäische Parlament stimmt dann zu (oder auch nicht). Die Parteien bzw. Fraktionen haben also eine Vereinbarung getroffen, nach der sie geltendes Recht – die Rechtsstaatlichkeit gilt als einer der Grundsätze und Werte der EU – zur Seite schieben. Parteienmacht ersetzt Rechtsstaatlichkeit.
Im Europäischen Parlament gibt es bisher keinen Fraktionszwang. Mit dem Spitzenkandidaten, der gar nicht für das Parlament selber kandidieren will, wird aber bei der Wahl der Kommission ein solcher Fraktionszwang zwingend, da ansonsten die ganze Idee des Spitzenkandidaten nicht funktionieren würde. Was von den Verfechtern dieser Praxis als eine Stärkung des Europäischen Parlaments und der Parlamentarier propagiert wird, ist in Wirklichkeit eine massive Schwächung der Parlamentarier als Volksvertretung. Gestärkt wird einzig und allein die Macht der Fraktionsspitzen.
Lux-Leaks und das Versagen des Parlaments
Die Auswirkungen dieser Politik konnte man bereits kurz nach der Europawahl 2014 und der Bestellung der neuen Kommission beobachten. Kaum war die Juncker-Kommission im Amt, wurde Lux-Leaks bekannt. Jean-Claude Juncker hat in seiner Funktion als Regierungsvertreter in Luxemburg spezielle Abkommen mit großen Unternehmen ausgehandelt, die diesen Firmen eine bessere steuerliche Behandlung zugesichert haben, als dies gesetzlich vorgesehen war. Nun war Juncker Präsident jener Kommission, die als Hüterin der Verträge gilt. Seine politische Handlungsweise war mit dem Amt, das ihm anvertraut wurde, nicht vereinbar. Genaugenommen hätte das Europäische Parlament, würde es seine Rolle ernst nehmen, einen Abwahlantrag einbringen müssen. Das aber war für die großen Fraktionen nicht möglich, da sie sich bereits vorab darauf geeinigt hatten, wer Präsident der Kommission werden sollte. Hätte die EVP dem Abschuss des eigenen Spitzenkandidaten als Kommissionspräsident zugestimmt, hätte sie als stärkste Fraktion keinen anderen Kandidaten mehr präsentieren können, da der ja nicht Spitzenkandidat war. Das Europäische Parlament versagte damit als Kontrollorgan, aus der angekündigten Stärkung des Parlaments wurde seine Schwächung.
Besonders auffällig wird diese Schwächung, wenn man einen Vergleich zu den Ereignissen Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts zieht. In der damaligen Santer-Kommission gab es die französische Kommissarin Edith Cresson, die durch eine besonders eigenwillige Interpretation ihrer Amtsführung auffiel.
Obwohl das Europäische Parlament damals noch deutlich weniger Kompetenzen hatte, und der Kommission nur als Gesamtorgan das Misstrauen hätte ausgesprochen werden können, wurde der Misstrauensantrag im Parlament eingebracht. Gescheitert ist er letztlich am Druck der Regierungen der Mitgliedsstaaten. Nun hat sich das Parlament selber Fesseln angelegt.
Bilder: Europäische Union 2014 / 2015 / 2017