Der Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ wurde im Europawahlkampf nur von den Neos positiv verwendet. Die ÖVP lehnt den Begriff als „Unsinn“ ab. Das war nicht immer so. Dabei geht es aber nicht nur um die europäische Einigung, sondern auch um das Staatsverständnis. Von Rainhard Kloucek
Europaministerin Karoline Edtstadler erklärte in einem Posting auf X (vormals Twitter) wenige Tage vor der Europawahl: Die „Vereinigten Staaten von Europa“ sind ein Unsinn: Das Motto der Europäischen Union ist „in Vielfalt geeint“. Reinhold Lopatka, Spitzenkandidat der ÖVP für die Europawahl und langjähriger Politiker erklärte in einem email wenige Tage vor der Wahl: „Jetzt ist keine Zeit für Experimente. Ob ÖXIT-Fantasien, Schuldenunion, Vereinigte Staaten von Europa oder kompromisslose Verbotspolitik auf Kosten unserer Wirtschaft: Die anderen Parteien drohen Europa ins Chaos zu stürzen. Das gefährdet nicht nur unseren Wohlstand, sondern auch die Sicherheit in unserem Land.“ Offensichtlich meint er damit, dass die „Vereinigten Staaten von Europa“ Wohlstand und Sicherheit in Österreich gefährden und Europa ins Chaos stürzen würden.
Klar positiv verwendet wurden die Vereinigten Staaten von Europa im Wahlkampf nur von den Neos. Die kleine liberale Partei war in dem Wahlkampf die einzige Partei, die mit einer eindeutig europäischen Botschaft angetreten ist. Die FPÖ spielte geschickt auf dem Klavier der Demagogie, die SPÖ weiß noch immer nicht, was sie von der EU will, abgesehen von mehr Umverteilung. Die Sympathie der Grünen für die Klimaterroristen ist bekannt. Bei der ÖVP gab es keine klare Botschaft. Die Aussagen von Kanzler Karl Nehammer bei einer Veranstaltung zum 90. Geburtstag von Alois Mock ließen eher den Schluss zu, dass die einstige Europapartei die Europäische Union auf eine Zusammenarbeit von Nationalstaaten reduzieren möchte. Das ist im besten Fall das, was Viktor Orban auch will. Es ist aber nicht europäisch.
Wahrscheinlich hat jeder Mensch eine Vorstellung, was damit gemeint sein könnte, wenn der Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ verwendet wird. Die meisten denken dabei wohl an die Vereinigten Staaten von Amerika und weniger an die Vereinigten Arabischen Emirate. Mit den USA wird wiederum die Politik einer Weltmacht in Verbindung gebracht, die nicht von allen positiv gesehen wird. Der Antiamerikanismus ist nach wie vor eine ernstzunehmende politische Motivation. Viele denken bei der Kombination „Vereinigte Staaten“ und „Europa“ in erster Linie an „Brüssel“, und verbinden „Brüssel“ mit einem bürokratischen Monster, das fernab der Bürger diesen und den EU-Staaten irgendwelche Bösartigkeiten aufzwingt. Dass sie dabei den praktischen politischen Prozess in der Europäischen Union missinterpretieren, ist für die meisten nicht störend.
Schweiz oder USA?
Die Frage, wer den Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ erfunden hat, kann hier nicht geklärt werden. Richard Coudenhove-Kalergi, der Gründer der Paneuropa-Union, bringt den Begriff bereits 1923, also vor mehr als 100 Jahren, ins Spiel. In seinem Buch „Paneuropa“ schreibt er: „Die Krönung der paneuropäischen Bestrebungen wäre die Konstituierung der Vereinigten Staaten von Europa nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Amerika.“ Ein paar Jahre später nimmt er in der mittlerweile erscheinenden Zeitschrift „Paneuropa“ unter dem Titel „Die Schweiz als Vorbild“ neuerlich dazu Stellung: „Die Bezeichnung „Vereinigte Staaten von Europa“ hat vielfach zu Missverständnissen geführt. Sie wurde als europäische Analogie zu den Vereinigten Staaten von Amerika aufgefasst.“ … „Europa wird niemals die amerikanische Verfassung nachahmen können; jeder Versuch, dies zu tun, würde die paneuropäische Entwicklung bedrohen. Europa kann in seiner Verwirklichung keinem fremden, sondern nur einem europäischen Beispiel folgen; nicht den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern der Schweizer Eidgenossenschaft.“
Schon diese beiden unterschiedlichen Definitionen der Vereinigten Staaten von Europa durch den selben Autor innerhalb weniger Jahre zeigt, dass es bei der Verwendung dieses Begriffes weniger um die europäische Einigung, sondern vielmehr um das Staatsverständnis geht. Meinen wir mit Staat einen Zentralstaat, der alles zentral regelt, oder meinen wir mit Staat eine subsidiär geordnete Einheit? Aber weder bei einer Europaministerin noch bei einem Spitzenkandidaten einer Europawahl darf man heute davon ausgehen, dass sie Coudenhove-Kalergi gelesen haben.
Wobei auch die USA kein Zentralstaat sind. Die einzelnen Bundesstaaten haben eigene Steuersätze, unterschiedliche Zugänge zum privaten Waffenbesitz, unterhalten territoriale Verteidigungseinheiten. Trotzdem aber treten die USA in der Außenpolitik oder auch in der Sicherheitspolitik als ein Akteur auf, der deshalb (unter anderem auch getragen durch seine Wirtschaftsmacht) gestaltende Kraft auf der Bühne der Weltpolitik entfalten kann.
Die immer engere Union
Auch in Europa selbst wurde der Begriff Vereinigte Staaten von Europa lange Zeit positiv bewertet. In den Römischen Verträgen (1957) findet sich das Ziel einer immer engeren Union. Gewiss, die Regulierungsdichte war damals deutlich geringer, die Erkenntnis, dass ein zersplittertes Europa von anderen dominiert werden würde aufgrund der Teilung des Kontinents aber noch für jeden sichtbar.
Josef Klaus, österreichischer Bundeskanzler der ÖVP-Alleinregierung von 1966 bis 1970, hat von den Vereinigten Staaten von Europa gesprochen und auch von einer europäischen Regierung, die unter anderem für die Wirtschafts- und Außenpolitik zuständig sein sollte. Einer seiner Mitarbeiter im Kabinett war Alois Mock. Er wurde später zu jenem Außenminister Österreichs, der den Beitritt des Landes zur Europäischen Union verhandelte. In der Jugoslawien-Politik war er Vorreiter einer Anerkennung der Unabhängigkeit von Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, etc. und für die Integration dieser Länder in die Europäische Union. Er hat sich dabei nicht hinter einer Neutralität versteckt und in weiterer Folge auch die Unabhängigkeit des Kosovo massiv unterstützt. Würde man seinem Beispiel heute folgen, würde eine Verteidigungsministerin, die aus der ÖVP kommt, sich nicht in die Aussage versteigen, der Einsatz westlicher Waffensysteme durch die Ukraine gegen russisches Territorium, um dort Artilleriesysteme auszuschalten, mit denen Angriffe auf beispielsweise die Zivilbevölkerung der Millionenstadt Kharkiv erfolgen, sei ein Überschreiten einer roten Linie.
Nun ist die Europäische Union weder ein Zentralstaat noch ein reines Bündnis von Nationalstaaten (egal ob diese zentralistisch oder föderalistisch organisiert sind). Die EU ist weder Bundesstaat noch Staatenbund. Die EU verbindet beide Elemente. Sie hat gemeinschaftliche Institutionen wie Kommission und Europäisches Parlament, die den bundesstaatlichen Charakter manifestieren. Der Rat hingegen ist eine rein intergouvernmentale Institution. Man spricht bei der EU deshalb auch von einer Konstruktion „sui generis“, also einer ganz eigenen Konstruktion, die noch dazu nach wie vor in einer Entwicklung ist.
Wird nun ein Widerspruch zwischen dem Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ und dem Motto der Europäischen Union„in Vielfalt geeint“ konstruiert (wie das Europa- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler getan hat), stellt sich die Frage, welches Staatsverständnis hinter einem solchen konstruierten Widerspruch steht.
Zentralstaat oder föderaler Staat
In Vielfalt geeint sind auch die beiden EU-Länder Deutschland und Österreich. Die Länder (also konkret die Bundesländer) haben in beiden Staaten eine starke Stellung. Der Föderalismus ist in beiden Staaten gut ausgebaut. Auch Staaten wie Spanien, Italien (für Südtirol) kennen Autonomiestatuten für bestimmte Regionen. Die Regionen haben ihre Besonderheiten, haben Gesetzgebungskompetenz, teilweise sogar Steuerkompetenz. Es gibt Euro-Regionen in der EU, wo Regionen über derzeitige Staatsgrenzen hinweg auf verschiedenen Ebenen zusammenarbeiten.
Der Widerspruch zwischen den „Vereinigte Staaten von Europa“ und dem Motto der Europäischen Union„in Vielfalt geeint“ existiert also nicht. Eine Verfassungsministerin der Republik Österreich müsste das wissen. Die Konstruktion eines derartigen Widerspruchs ist der eigentliche Unsinn. Wer einen solchen Widerspruch konstruiert steht vielmehr im Verdacht, in Wirklichkeit den Staat als zentrale Einheit zu sehen, der das Recht beansprucht, alles regeln zu dürfen und auch alles regeln zu können.
Der totale Staat
Der Paneuropa-Gründer Richard Coudenhove-Kalergi nannte einen solchen Staat einen totalen Staat. Der aber würde im Widerspruch zur Freiheit der Bürger stehen. Natürlich könnte es sein, dass die Europa- und Verfassungsministerin ihre Unsinn-Aussage nur aus Angst vor einer Demagogie-Partei getätigt hat. Wer sich aber von Demagogie leiten lässt, hat den politischen Führungsanspruch verloren.
c Beitragsbild: EU 2019 Mauro Bottaro