Verpasst Europa erneut eine Chance? 

Der neugewählte Präsident von Argentinien, Javier Milei, mag skurril sein und viele radikale Ansichten haben. Aber in außenpolitisch relevanten Themen ist er „westlich“ positioniert. Eine Chance, die Europa nützen könnte, wenn man endlich geostrategisch denken und handeln würde. Von Stefan Haböck

Der Libertäre Javier Milei ist neuer Staatspräsident von Argentinien. Das löst in Europa, wo er als „Rechtspopulist“ bezeichnet wird, weil fundamentales Wissen über politische Denkschulen leider abhandengekommen ist, große Empörung aus. Man muss kein Experte für Argentinien sein, wie so viele es in den vergangenen Tagen wurden, um zu wissen, dass die peronistischen Jahrzehnte dem Land nicht gutgetan haben. Natürlich, denn noch nie haben politische Bewegungen, die sich von einem Militärdiktator ableiten, etwas Gutes gebracht. 

Was Europa in seiner Empörung über die Innenpolitik eines Landes, dessen Hauptstadt 11.000 Kilometer von Wien entfernt ist, übersieht: Erstens, Milei wurde demokratisch gewählt. Ein Gegensatz zu vielen anderen globalen Partnern Europas. Und: So radikal viele Aussagen von Milei sind, außenpolitisch ist er positioniert: Für die Ukraine, gegen den Beitritt zum China-dominierten BRICS-Bündnis mit Iran und Saudi-Arabien, weniger Nähe zu Russland.

All das würde Europa enorm helfen. Noch ein Land im „globalen Süden“, dass sich autoritären Staaten entziehen möchte. Doch anstatt das zu nutzen, hagelt es Vorwürfe. 

Wurde Lula, der durch die Weltpolitik irrlichtert, in Europa noch gefeiert, werde nun „alles schwerer, auch das Mercosur-Abkommen“. Als ob die EU-Abkommen, der wichtigste geopolitische Hebel der EU, je an den Partnern scheitern würden. „Der Populismus greife um sich“, las man, und meinte damit nicht die Peronisten oder das Regime in Venezuela. 

Europa ist abhängig, erhebt aber gerne den Zeigefinger

Europa erhebt gerne den Zeigefinger in der Welt, kann (und will) aber seine Werte und Prinzipien nicht durchsetzen. Sicherheitspolitisch völlig von den USA abhängig, starrt man alle vier Jahre gebannt auf die Umfragen in Iowa, ob dort ja nicht Trump gewinnt.

Am Westbalkan, wo man 9 Jahre brutale Kriege und Massaker ebenfalls nicht selbst und ohne USA beenden konnte, haben außereuropäische Mächte immer mehr Einfluss.

In Nahost ist man Zuschauer, innereuropäisch dazu gespalten. Partner wie Türkei oder Tunesien beleidigen die zahlende EU vor laufenden Kameras.

China kontrolliert Großteil der europäischen Logistikketten, praktischerweise auch wichtige europäischen Häfen. Reziprozität? Fehlanzeige. In Afrika wurde Frankreich vertrieben. Taliban und Oligarchen-Kinder reisen durch den Schengenraum, davon können Kosovaren nur träumen. Unter den Augen der EU werden 120.000 Armenier vertrieben. Von einem Gas-Lieferanten, da kann man nichts machen.

Es wäre recht einfach: Entweder, Europa agiert immer moralisch. Dann darf es auch nicht beim Emir von Katar, in dessen Land der Hamas-Führer luxuriös residiert, lächeln. Oder es agiert geostrategisch, dann wäre es wohl mehr als angebracht die Chance zu nutzen, dass sich jemand gegen mehr Bündnis mit Autokratien entscheidet. Aber es steht zu befürchten, dass geostrategisches Denken weiterhin von reiner Empörung überdeckt wird.

Beitragsbild: Casa Rosada, Sitz des argentinischen Präsidenten. c Europäische Union 2018 Etienne Ansotte