Warum ist Moskau gegen ein gemeinsames europäisches Projekt?

Die Präsidentschaftswahlen in Weißrussland sind auch unter der Perspektive der geopolitischen Interessen Russlands zu sehen. Eine Analyse von Wasyl Korotkyi.

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko kandidiert bei der Präsidentschaftswahl am 9. August für seine sechste Amtszeit, aber jetzt in einer deutlich geschwächten Position. Seine Popularitätswerte sind aufgrund der COVID-19-Pandemie zurückgegangen. Einen besonderen Einfluss hatte jedoch sein Konflikt seit Vorjahr mit dem Kreml, nachdem Lukaschenko die vom russischen Präsidenten auferlegte tiefere Integration der beiden Länder abgelehnt hatte.

Nach dem Scheitern der Absicht, die beiden Länder de-facto zu vereinen, blieb Putin offensichtlich keine andere Wahl, als eine Option der Änderung der russischen Verfassung zu verwenden, und damit seine Amtszeit als Präsident „auf Null zu setzen“. Der vorherige Plan sah die vollständige Umsetzung des Vertrags über den Unionsstaat Russland und Weißrussland vor, und dies würde Putin einen legitimen Grund geben, als Staatsoberhaupt für den bereits vereinigten Unionsstaat wiedergewählt zu werden.

Lukaschenko widersetzte sich diesem „Anschluss“ von Belarus an Russland, und erhielt von Moskau wirtschaftlichen und politischen Vergeltungsdruck. Der weißrussische Präsident begann unterdessen sich langsam und in kleinen Schritten in Richtung Europa zu bewegen und gleichzeitig die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wiederherzustellen. Es ist klar, dass dieser schrittweise pro-europäische Kurs sowie Minsks Nichtunterstützung der russischen Aggression gegen die Ukraine und Nichtanerkennung der Annexion der Krim den Kreml nur irritieren konnten. Moskau wünscht sich einen deutlich gefügigeren „Partner“ an der Spitze des benachbarten Weißrussland, dessen Entwicklungsvektor eurasisch und nicht euroatlantisch sein sollte.

Die Inhaftierung von Söldnern der sogenannten „Wagner PMC“ in Weißrussland, die als hybride Spezialeinheit der russischen Armee gilt, zeigte nur die hohe Spannung in den Beziehungen zwischen Minsk und Moskau. Laut Lukaschenko, der in jüngster Zeit die russische Führung zunehmend kritisiert hat, wurden die inhaftierten Söldner, von denen viele im Donbass gegen die ukrainische Regierung kämpften, speziell nach Belarus geschickt, um die Situation vor und nach den Wahlen zu erschüttern, und dies ist ein „gefährliches und starkes Signal“.

Der Kreml bestreitet natürlich die Entsendung von Kämpfern – um das Land zu destabilisieren – nach Weißrussland. Aber es ist offensichtlich, dass Moskau an dem Szenario interessiert ist, das sich in Belarus abspielt – maximale innere Spannungen, Zusammenstöße auf den Straßen und die größtmögliche Verfolgung und Unterdrückung von Demonstranten durch die Regierung, was zu einer Abkühlung der Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen führen wird. In diesem Fall bleibt Lukaschenko als „letzter Diktator Europas“ isoliert, und Russland wird der einzige Vektor der Entwicklung sein.

Ein ähnliches Szenario sollte in der Ukraine während der Präsidentschaft von Viktor Janukowytsch stattfinden. Dann stand das Land vor einer Wahl: eurasischer Vektor mit Moskau als Zentrum oder euro-atlantischer Integration.

Entgegen den Erwartungen der meisten Ukrainer weigerte sich Janukowytsch im November 2013 unter dem Druck Moskaus, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Einen Monat später kündigte Russland Kredite in Höhe von mehreren Milliarden Dollar und Rabatte auf Erdgas an die Ukraine an. Dies war eine Art Zahlung an Janukowytsch, und eine Ablehnung der europäischen Integration.

Und Moskau hatte ein besonderes Interesse daran, dass die ukrainische Regierung größtmögliche Gewalt gegen die Demonstranten anwendet. Berichten zufolge wurden Vertreter der russischen Sondereinheiten von der pro-russischen Führung der Ukraine in die Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur blutigen Niederschlagung von Massenprotesten einbezogen. Das Interesse des Kremls war wie folgt: Nach einer solch brutalen Reaktion würden die Vertreter der ukrainischen Regierung im Westen isoliert und unerwünscht sein, und als einziger Vektor der Entwicklung des Landes würde der Weg in die „brüderlichen“ Armen Moskaus, mit dem anschließenden Verlust der Souveränität, bleiben.

Trotzdem gelang es den Ukrainern den korrupten und pro-russischen Präsidenten während der Revolution der Würde zu stürzen. Moskau reagierte darauf jedoch mit bewaffneter Aggression und Besetzung von Teilen des Territoriums, die bis heute andauert.

Nach der Schaffung separatistischer Formationen in der Ostukraine, der sogenannten „DPR“ und „LPR“, versucht Russland diese Gebiete mit pro-russischen Behörden formell in das politische Feld der Ukraine zu integrieren, und damit den bestehenden euro-atlantischen Vektor der ukrainischen Entwicklung weiter zu blockieren.

Russlands Chefunterhändler in Friedensgesprächen mit der Ukraine ist derzeit der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Dmitry Kozak. Dieser hochrangige russische Beamte benutzt als Schablone seinen Plan zur Lösung des Transnistrien-Konflikts. Es war Dmitry Kozak, der zuvor für die „Integration“ der „Pridnestrowischen Moldauischen Republik“ (eine im Russischen und Ukrainischen verwendete Bezeichnung für das abgespaltene Transnistrien, Anmerkung), eines anderen separatistischen Projekts des Kremls, in Moldawien verantwortlich war.

Der in den 2000er Jahren entwickelte sogenannte „Kozak Plan“ sah die Föderalisierung Moldawiens und die Gewährung der Autonomie für Transnistrien vor, wobei die pro-russischen Behörden in der Region de facto erhalten bleiben sollten. Neben Transnistrien sollte eine andere pro-russische Region, Gagausien, völlig autonom werden. Gleichzeitig konnten die Regionen jegliche Gesetzgebungsinitiativen in Chisinau blockieren, und damit auch die weitere europäische Integration. Nach dem „Kozak Plan“ sollte sich Moldawien selbst verpflichten, die Neutralität aufrechtzuerhalten und die Armee zu demobilisieren, sowie Russland das Recht zu geben, 20 Jahre lang russische Truppen in Transnistrien zu stationieren.

Bekanntlich hat Russland, das sich seltsamerweise von einer Konfliktpartei in Transnistrien in einen Vermittler verwandelte, immer noch eine Task Force von etwa 1.300 russischen Truppen auf dem Territorium von Transnistrien stehen. Darüber hinaus befinden sich in russischen Militärdepots im Dorf Kolbasna fast 20.000 Tonnen Munition, die insbesondere bei militärischen Operationen und Provokationen durch die Geheimdienste des Kremls eingesetzt werden können.

Unterdessen befindet sich diese Task Force, die nicht nur die territoriale Integrität Moldawiens, sondern möglicherweise auch die angrenzende Region der Ukraine bedroht, illegal im Hoheitsgebiet Moldawiens: auf den OSZE-Gipfeln 1999 und 2001 verpflichtete sich Russland zum vollständigen Abzug dieser Truppen. Und gerade diese Frage des Abzugs der Truppen aus Transnistrien hat Russland zu einem Instrument der Verhandlungen und des Drucks auf Moldawien gemacht, um dieses Land nach Moskaus Plan zu „föderalisieren“.

Moldawien befindet sich in der Zone besonderer Aufmerksamkeit des Kremls, der diese Richtung im Hinblick auf die Realisierung seiner geopolitischen und geoökonomischen Projekte als äußerst wichtig erachtet. Dazu gehören die Schaffung und Erweiterung einer Zone militärpolitischen und wirtschaftlichen Einflusses in der Schwarzmeerzone neben der Ukraine und Rumänien, die Verhinderung der Stärkung des Einflusses der EU, sowie auch eine Bedrohung für die Südflanke der NATO.

Um die europäische Integration der Republik Moldau weiter zu blockieren, hat Russland natürlich seine Pläne zur Integration Transnistriens in die Republik Moldau nicht aufgegeben. Eine neue Gelegenheit hierfür könnte sich nach den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen in Moldawien eröffnen, die für den 1. November angekündigt wurden. Darüber hinaus gerät das Land zunehmend in eine Regierungskrise und es sollten daher vorgezogene Parlamentswahlen nicht ausgeschlossen werden.

Mit den nahenden Wahlen hat Moskau seine Unterstützung für pro-russische Streitkräfte im Land verstärkt, unter anderem zugunsten des amtierenden Präsidenten, des Führers der prorussischen  Sozialistischen Partei, Igor Dodon. Mit dem Beginn der aktiven Phase des politischen Kampfes um die Präsidentschaft Anfang September, ist Russlands aktiver Einsatz manipulativer politischer Technologien, im Interesse der von ihm unterstützten Kräfte, ebenfalls zu erwarten.

Ob sich Moldawien aus der derzeit starken Umarmung Moskaus befreien kann, hängt vor allem von der Fähigkeit der pro-europäischen politischen Kräfte im Land ab, ihre Reihen und Bemühungen zu vereinen. Die Ukraine hatte immer noch Erfolg, obwohl die „Scheidung“ von Moskau blutig war, und der Konflikt tobt immer noch. Auch Weißrussland scheint sich zunehmend bewusst zu sein, dass die von Moskau angeführte „Eurasische Union“ nicht diejenige ist, die zu Freiheit und Wohlstand führt.

Aber Russland wird seine „brüderliche“ Umarmung nicht einfach loslassen. Warum ist Moskau so gegen die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Projekts auf dem Kontinent?

Wasyl Korotkyi ist Ukrinform-Korrespondent in Österreich

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