By Mateusz Włodarczyk - www.wlodarczykfoto.pl (Own work) [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Wieso verstehen wir Osteuropa nicht?

Wie Geschichtsvergessenheit den Blick auf die echten Bedürfnisse unserer osteuropäischen Nachbarn trübt – und wieso unsere Prioritäten falsch gesetzt sind. Ein Kommentar von Stefan Haböck, Internationaler Referent der Paneuropa Bewegung Österreich.

Viel kann man tagtäglich über Peinlichkeiten des US-amerikanischen Präsidenten lesen. Manches ist Politik, manches nur Klatsch. Soweit so bekannt. Man hat sich schon daran gewöhnt, dass Trump aktuell der größte Medienstar ist. Und nicht nur er.

Viel Washington, kaum Moskau, nichts aus Sofia

Man hört tagtäglich mehr „Nachrichten“ über ihn, seine Familie, seine Berater oder irgendwelche Lokalpolitiker in Illionois die etwas gegen Trump sagen, als die gesamte seriöse EU-Berichterstattung zusammen. Vor Kurzem fanden sich auf der Startseite von orf.at unter „Ausland“ sieben Berichte – fünf davon zu USA und Trump.

Paneuropa hat schon zu früheren Zeitpunkten kritisiert, dass in der heimischen Berichterstattung Ost – und Südosteuropa so gut wie nicht vorkommt. Finden Wahlen statt (zum Beispiel im EU-Land Bulgarien), wird das mit einer kurzen Nachricht abgetan. Hintergründe, Analysen oder ähnliches – Fehlanzeige. Klar, die USA haben natürlich eine weltpolitische Bedeutung, die von kaum einem anderen Staat getoppt werden kann. Ob das eine ständige Berichterstattung über rein inneramerikanische Angelegenheiten rechtfertigt sei dahingestellt.

Nur an der Größe und Bedeutung des Landes alleine kann es nicht liegen. Denn auch Russland, Atommacht mit rund 170 Millionen Einwohnern und einer Exklave in Europa, ist in der tagesaktuellen Berichterstattung de facto inexistent.

Innenpolitische Meldungen aus dem größten Land der Erde? Fehlanzeige. Wer ist der Sprecher von Präsident Putin? Niemand kennt ihn. Der lustigere Präsidentensprecher war ja doch der in Washington. Wie ist eigentlich die Russische Föderation aufgebaut? 20% der Bevölkerung muslimisch – im Land, das gerne als Rettung des christlichen Abendlandes gesehen wird? Welchen Einfluss hat ein Kadyrow? Wer weiß. Was wir wissen ist, was Hollywoodschauspieler so über den US-Präsidenten denken. Relevanz für Europa? Wie soll man bitte Länder verstehen, über die man so gar nichts erfährt.

Verstehen wir den Osten überhaupt?

Russlandversteher – ein Wort, das meist für heimische Propagandisten der dortigen Regierung gebraucht wird. Was den Sinn hinter „Russland verstehen“ völlig verkehrt. Denn natürlich muss man, um aktuelle politische Lagen und zukünftige Entwicklungen sehen und analysieren zu können, das jeweilige Land, die Menschen, die Traditionen und die Sorgen verstehen, egal ob man sie teilt oder nicht. So etwas nennt sich Geostrategie. Analysieren der Lage und Strategien daraus ableiten. Etwas, was Europa verlernt hat – was aber die Großmächte dieser Welt beinhart Tag für Tag machen und durchsetzen.

Viel Unverständnis und fehlende Berichterstattung leitet sich sicher auch vom tatsächlichen Nicht-verstehen her – nämlich der Unkenntnis der Sprache, der Schrift und der Alltagskultur. Klar, mit Grundschulenglisch kann man Präsident Trump durchaus folgen. Wer mit den Simpsons aufgewachsen ist, kennt die Satire auf das politische System in- und auswendig. US-Krankenversicherung? Da kann Europa mitreden.

Doch die Thematik geht tiefer. Es ist ein grundsätzliches Nicht-verstehen von Osteuropa. Der Sorgen, Hoffnungen und Geschichte der Völker dort.

Der unheilvolle Pakt – ein wiederkehrendes Trauma

Am 24. August jährte sich zum 78. Mal ein Ereignis, das mitverantwortlich war für den brutalen Flächenbrand namens Zweiter Weltkrieg. Und das bis heute tief in der DNA unserer Nachbarn in Osteuropa drinnen steckt.

Am 24. August 1939 unterzeichneten der deutsche Außenminister von Ribbentrop und der sowjetische Volkskommissar Molotow (in Anwesenheit von Diktator Stalin) den „deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt“ – bekannt als Molotow-Ribbentrop-Pakt oder eben Hitler-Stalin-Pakt. Am 1. September marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Kurze Zeit später kam die Rote Armee.

Die wiederholte Besetzung Polens durch die das Land umgebenden Großmächte. Wir sollten verstehen wieso Polen und Balten zusammenzucken, wenn wieder mal diverse Politiker davon sprechen, dass Deutschland und Russland natürliche Nachbarn seien.

Niemand würde auf die Idee kommen, Länder der ehemaligen Donaumonarchie müssten Wien bei irgendetwas um Erlaubnis fragen. Bei den ehemaligen Ländern der Sowjetunion nimmt man das aber selbstverständlich an. Warum? Nationalisten und viele Sozialisten, leider auch manch Konservative und Liberale, sprechen osteuropäischen Völkern die Freiheit und Selbstbestimmung ab. Moskau sei zu fragen. So lange kann ein Land in Osteuropa gar nicht unabhängig sein, dass „wir“ ihm endlich mal auch volle Souveränität zugestehen würden.

Ein Konflikt in Europa bahnt sich an

In der Europäischen Union gärt es. Nachdem der „Nord-Süd-Konflikt“ um Finanzhilfen für Griechenland etwas aus dem Blickfeld gerückt und durch die Flüchtlingsdebatte ersetzt wurde, ist gerade ein West-Ost-Konflikt im Gange, den man nicht unterschätzen sollte.

Osteuropa ist ein Begriff, der oft verwendet wird für die Länder, die sich östlich des Eisernen Vorhanges befanden. Auch hier soll dieser Begriff, der für mich keinerlei negativen Bezug hat, verwendet werden, auch wenn Prag ja nicht östlich von Wien liegt.

Man muss da gar nicht so sehr in die Tagespolitik und die Ausritte einzelner semi-autoritärer Nationalpolitiker hinabsteigen, die Brüssel als Ziel auserkoren haben. Dieses Ziel wird von fast allen nationalen Politikern, egal ob Ost oder West, gerne hergenommen.

In „Ost“ und „West“ steigt das Unverständnis – für einander

Während sich westeuropäische Staaten über fehlende Solidarität der osteuropäischen EU-Partner, vor allem in der Frage der Flüchtlingsverteilung, beschweren, steigt in Osteuropa das Misstrauen gegenüber den westlichen EU-Mitgliedern. Der Konflikt manifestiert sich in den Gegenstimmen und der geplanten Klage durch vier Mitgliedsstaaten bei den Flüchtlingsverteilungsquoten und beim Thema „schlechtere Lebensmittelqualität für östliche Länder“.

Für viele gelten die osteuropäischen Völker noch als rückständiger, nicht „reif für die westliche

Der Eiserne Vorhang spaltete Europa jahrzehntelang. Bis heute wirkt er unbewusst in vielen Köpfen fort. Quelle: eigene Karte, basierend auf den Generic Mapping Tools und ETOPO2 , Autor: San Jose, 7. Oktober 2006

Der Eiserne Vorhang spaltete Europa jahrzehntelang. Bis heute wirkt er unbewusst in vielen Köpfen fort.
Quelle: eigene Karte, basierend auf den Generic Mapping Tools und ETOPO2 ,
Autor: San Jose, 7. Oktober 2006

Demokratie“. Bewiesen werden soll diese These durch den Hinweis auf dubiose, nationalistische Regierungen. Das „Ost-Bashing“ nach der Bundestagswahl spricht für sich. Und ignoriert, dass im wohlhabenden, bayerischen Ingolstadt (Arbeitslosigkeit 2,3%) die AfD zwischen 13% (Erststimmen) und 15% (Zweitstimmen) erreichte.

Und ja, in Rumänien zieht eine Clique rund um den Sozialistenchef Dragnea die Fäden und in Polen betreibt eine nationalistische Regierung den Ausstieg Polens aus dem westlichen Rechtsstaat vor.

Was beweist dies? Nichts. In Griechenland ist eine kommunistisch-nationalistische Regierung an der Macht, in Deutschland stehen Nachfolger des SED-Regimes an der Spitze von Bundesländern. Marine Le Pen wurde zwar nicht Staatspräsidentin, aber immerhin rund 41% wählten im ersten Durchgang den rechtsextremen Front National bzw. den linksextremen Kandidaten Melenchon.

In Großbritannien irrlichterte eine UKIP umher und es führte eine demokratisch legitimierte Parlamentsmehrheit das Land in das Brexit-Chaos. Niemand würde davon sprechen, dass die Franzosen, Briten oder Deutschen unreif für Demokratien wären.

Transformationsländer brauchen Unterstützung, nicht Tadel

Ja, manche Länder in Osteuropa haben Probleme. Und? Es sind Transformationsländer. Manche mehr, manche weniger. Während die Tschechische Republik Wirtschaftswachstum, niedrige Arbeitslosenzahlen und Haushaltsüberschuss aufweist, versucht in Rumänien eine Regierung die Korruptionsgesetze zu erleichtern – um die Parteifreunde zu schützen. Transformationsländern liegt es zugrunde, dass es Herausforderungen gibt, vor allem im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Korruption. Hier helfen weder erhobener Zeigefinger noch Drohungen – sondern nur klare Unterstützung für alle, die gegen Korruption und den Verfall von Rechtsstaatlichkeit ankämpfen.

Jedes Jahr stehen die Rumänen auf der Straße. Zuletzt gegen die Sozialisten Ponta und Grindeanu (dies sei erwähnt, Osteuropa wird bei uns meist nur mit rechtsnationalistischen Regierungen in Verbindung gebracht).

Der Wunsch nach Freiheit, Würde und Unabhängigkeit

Rund 26 Jahre ist es her, dass diese Länder die Last des realen Sozialismus abstreiften. Jedes dieser Länder war nach Jahrzehnten Sozialismus ruiniert. Die Wirtschaft lag darnieder. Korruption kennzeichneten die öffentlichen Institutionen. Wem konnte man vertrauen nach Jahrzehnten des Spitzelunwesens und der Schlägertrupps der Regierungen a la Securitate und Co.?

Und dennoch kämpften die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang – für die Freiheit. Der unbändige Wunsch, nicht mehr Vasallen oder Untertanen von Autokraten sein zu müssen.

Und jedes Mal, wenn der Wunsch nach Freiheit größer wurde, schickten die Machthaber Panzer. Vilniuser Blutsonntag. Prager Frühling. Um nur zwei Beispiele zu nennen.

Tausende Menschen starben für die Freiheit. Und letztendlich obsiegten sie doch. Der Fall der Berliner Mauer, das Durchschneiden des Zaunes zu Ungarn, der Sturz der Ceausescus.

Die Freiheit, die diese Völker um 1990 herum erreichten, wird ihnen aber nicht immer voll zugestanden. Selbstbestimmungsrecht der Völker? Gilt nur solange, bis diese Völker freiwillig der NATO beitreten wollen. Selbstverständlich darf Österreich gegen eine selbst mitbeschlossene Lebensmittelverordnung wettern – aber, dass eine osteuropäische Regierung, die ihren Bürgern extrem starke Reformauflagen aufbürdet eine andere Meinung bei der Flüchtlingsverteilung vertritt, das gilt als unsolidarisch.

Sicherheit – ein Grundbedürfnis, das in der Politik stark präsent ist

Vielleicht ist uns im „Westen“ nicht genug bewusst, dass viele – man soll ja nie pauschalisieren – Menschen im östlichen Europa andere akute Bedürfnisse haben als im Rest Europas. Anti-Korruption ist vor allem in Rumänien ein tagtägliches Thema, dem sich die Bevölkerung auch mutig stellt.

Aufbau eines leistungsfähigen (Sozial)Staates ist in Ländern, wo die Durchschnittspension 90€

Alois Mock: Einer der letzten Spitzenpolitiker westlich des Eisernen Vorhanges, dem (zurecht) ein tieferes Verständnis für Osteuropa attestiert wurde. Quelle: http://www.alois-mock-europastiftung.at/

Alois Mock: Einer der letzten Spitzenpolitiker westlich des Eisernen Vorhanges, dem (zurecht) ein tieferes Verständnis für Osteuropa attestiert wurde.
Quelle: http://www.alois-mock-europastiftung.at/

beträgt, ebenfalls ein Thema. Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit in Ländern, in denen noch Richter aus der kommunistischen Ära tätig sind. Und nicht zu vergessen: das Sozialsystem. Es ist klar, dass Regierungen von Staaten, in denen das Durchschnittsgehalt rund 200 – 300€ beträgt, sagen, man könne das eigene Sozialsystem nicht zu stark belasten.

Und dann wäre da noch das Thema Sicherheit – das Bedürfnis, das in Osteuropa aufgrund der vielen Erlebnisse den höchsten Stand hat. Und das in Österreich, das Land, das sich mit Neutralität und umgeben von NATO-Staaten an jeder sicherheitspolitischen Positionierung vorbeischummelte, viel zu wenig respektiert wird.

Das ständige Reden von „legitimen Interessenssphären“ – das alles lässt im Baltikum und Osteuropa die Alarmglocken schrillen. Und während alle Welt auf Trumps Eskapaden (Ablenkungen?) blickt, fühlen sich die Osteuropäer wieder in ihrer Freiheit und Unabhängigkeit bedroht.

Fremdherrschaft. Teilung. Spielball der Großmächte – die Angst speist sich aus der Geschichte

Am 24. August 1939 unterzeichneten das faschistische nationalsozialistische Regime Hitlers und das kommunistische Regime Stalins den „deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt“. Dieser Pakt regelte alles, was den Ländern Osteuropas heute wieder die schlimmsten Zeiten in Erinnerung ruft. Umschrieben mit „Neutralität“ und „Wiedergewinnung verlorener Territorien“ teilten sich die beiden brutalsten Herrschaftssysteme die Europa je erlebt hat, Land und Menschen auf. Polen, Baltikum, Ukraine, Weißrussland – Spielball der Großmächte.

Übrigens: „Neutralität“ und „Wiedergewinnung“ – beide Worte hört man heute oft im Zusammenhang mit der Krim-Annexion. Warum man die Geschichte der Krim just mit der Herrschaft des Zarenreiches beginnt und nicht mit der osmanischen Herrschaft wird wohl ein ewiges Rätsel bleiben. Dass die Vertreibung und Ermordung der Krim-Tataren kaum in Politikerreden Eingang findet ist fahrlässig.

Hunderte Millionen Tote später, erkämpften sich die mutigen Menschen in den geteilten, besetzten, annektierten und ausgeraubten Ländern ihre Freiheit – und ihre Würde. Und, sie kämpften sich nach Europa. Osteuropa gehört zu Europa, so wie der Westen, Norden und Süden.

Wenn so fundamentale geschichtliche Ereignisse wie der Molotow-Ribbentrop-Pakt heutzutage keinerlei mediale Aufmerksamkeit erhält, erlischt eventuell auch das Verständnis dafür, was die Menschen im Osten jahrzehntelang über sich ergehen lassen mussten. Als in Deutschland das Wirtschaftswunder anbrach, fuhren im Osten die Panzer auf.

Sind unsere Prioritäten in der politischen und medialen Debatte richtig geordnet?

Vielleicht sollten wir alle wieder unsere Prioritäten analysieren. 4 400 Newsmeldungen zu „Molotow Ribbentrop Pakt“ auf google.at (davon mehrere vom Kreml-finanzierten Sender Sputnik) stehen knapp 7 Millionen Treffer zu „Scaramucci“ gegenüber. Einem Mann, der genau zehn Tage eine Anstellung in einer US-Regierungsbehörde hatte.

Keinem Staat innerhalb der EU steht es zu, moralisch den Zeigefinger gegenüber anderen zu erheben. Und schon gar nicht sollten wir dies tun bei Ländern, die aus den Ruinen des Sozialismus auferstanden sind. Politische Meinungsverschiedenheiten wird es immer geben – und ja, auch ich sorge mich massiv um die Rechtsstaatlichkeit in manchen osteuropäischen Ländern.

Europa ist der Schlüssel zu gleichberechtigten europäischen Ländern

Aber: Was Europa geschafft hat ist, einen gemeinsamen Rahmen zu finden, in dem man sich bewegen kann. Gemeinsam legt man in Brüssel die Bedingungen fest, gemeinsam bekannte man sich zu den Grundfreiheiten. In Brüssel gilt de iure Polen gleich viel wie Frankreich, Ungarn wie Spanien. Erst wenn nationale Überheblichkeit ins Spiel kommt, wankt dieses Gleichgewicht.

Dass Über alldem noch die Europäische Menschenrechtskonvention, die allen Würde und Rechte garantiert, sollten wir jeden Tag aufs Neue dankbar bedenken.

Österreich hatte die Gnade, nach 1955 frei zu sein. Demokratisch und frei gewählte Regierungen zu haben. Meinungsfreiheit. Rechtsstaatlichkeit. Zeigen wir nicht mit Fingern auf unsere Freunde, die diese Freiheiten erst seit kürzerer Zeit genießen dürfen. Erheben wir nicht den Zeigefinger. Stattdessen sollten wir ihre Geschichte, die immer eine gemeinsame Geschichte mit uns ist, lernen. Verstehen. Ihre Bedürfnisse kennenlernen. Urlaub dort machen. Sightseeing in den osteuropäischen Ländern. Gemeinsame Wurzeln wiederentdecken. Dortige Sprachen erlernen. Gelebte Völkerverständigung.

Stefan Haböck ist Internationaler Referent der Paneuropa-Bewegung Österreich.